Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 47

auch unsere Beziehungen zu anderen behindern. Wie oben verdeutlicht, können Kinder und
Jugendliche die Vorstellung, Mitgefühl für eine schwierige Person oder einen Peiniger zu entwickeln,
zunächst als beängstigend und sogar verwirrend empfinden. Kindern aufzuzeigen, in welcher Weise sie
mit anderen verbunden sind und in wie vielerlei Hinsicht sie genauso sind wie andere, ist ein wichtiger
Schritt für die Entwicklung der Unvoreingenommenheit.
Wir spielen gern ein Spiel mit den Kindern, das wir „Ist mir nicht egal/Ist mir egal“ nennen. Bei diesem
Spiel lesen wir ein Szenario vor, in dem ein Kind oder ein Jugendlicher in einer etwas schwierigen
Situation beschrieben wird. Dann bitten wir die Schüler, sich entlang einer „Empathieskala“
aufzustellen, und zwar abhängig davon, wie stark sie sich mit der in der Situation beschriebenen
Person verbunden fühlen und sich Gedanken um sie machen. Die Personen in der jeweiligen Szene
werden auf der Grundlage von Geschlecht, Rasse und Gruppe sowie nach Kategorien wie „Freund“,
„Fremder“ und „Feind“ variiert. Durch die Veränderung dieser Kategorien können wir zeigen, wie unsere
Fähigkeit der Einfühlung in andere größtenteils durch unsere gruppeninternen Neigungen und
Einschätzungen sowie durch unsere eigenen Lebenserfahrungen geprägt wird.
In einer Stunde mit unseren Grundschulkindern lasen wir Szenarien wie „Jemand war an Halloween
krank und konnte beim Trick-or-Treat nicht dabei sein“; „Der neue Schüler sitzt während der
Mittagspause allein am Tisch“; „Ein Mädchen in deiner Klasse konnte seine Matheaufgaben nicht
lösen“, „Dein bester Freund wird aufgrund seiner Kleidung verspottet“; „Der Klassenrüpel hat im
Unterricht eine falsche Antwort gegeben und schaut verlegen“. Wir baten die Kinder, sich abhängig
davon, wie stark sie sich mit der im Szenario beschriebenen Person verbunden fühlten, entlang der
Skala aufzustellen.
Ausnahmslos konnten sich die Kinder besser in ihre engsten Freunde hineinversetzen und ihnen eher
beistehen. Das gleiche galt auch für Personen, die sich in einer Situation befanden, die sie selbst
bereits erlebt hatten und auf die sie sich beziehen konnten. Als wir die Schüler fragten, wie wir ihrer
Meinung nach miteinander verbunden sind, gab ein achtjähriges Mädchen diese aufschlussreiche
Antwort:
„Viele Situationen konnte ich nachempfinden, viele aber auch nicht. Und für die Situationen, wo
mir das nicht möglich war, wäre es falsch, wenn mir das egal wäre … aber wenn ich wirklich
richtig tief in mein Inneres schauen würde, könnte ich doch etwas entdecken, was mit mir zu tun
hat … sodass ich mich eigentlich doch die ganze Zeit gesorgt habe – weil, wenn man das wirklich
sehen kann, kann man sich mit allen Situationen verbunden fühlen, wirklich.“
Die Fähigkeit, „in den Schuhen eines anderen zu gehen“ und für einen oder mit einem anderen
mitzufühlen, ist eine entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung von Unvoreingenommenheit,
kognitiver Perspektivübernahme und Empathie.
4. Zuneigung und ein Verständnis von Interdependenz und Empathie entwickeln
„Schaut euch diesen Pullover an. Er ist bequem und er hält mich warm … Aber woher kommt dieser
Pullover? Was ist sonst noch nötig, damit ich zu diesem Pullover komme? Wovon
hängt das ab
?”
Dies ist eine der Möglichkeiten, Kindern das Konzept der Interdependenz vorzustellen.
„Ein Geschäft“, „Geld“, antworten die Kinder oft.
„Und das Geschäft? Werden die Pullover dort hergestellt? Woher kommen die Pullover?”
Kinder kapieren das Spiel sehr schnell. Man braucht Wolle und Schafe, Scheren, Bauernhöfe, Bauern,
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