Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 46

Mit dem Begriff „Selbstmitgefühl“ ist landläufig gemeint, sich selbst gegenüber freundlich zu sein und
sich selbst anzunehmen. Diese Bedeutung ist zwar in unserer Präsentation ebenfalls enthalten, aber
Selbstmitgefühl umfasst zudem drei entscheidende Schritte: (1) Die Ursachen des eigenen Leidens
erkennen; (2) Verstehen, dass man selbst in der Lage ist, dieses Leiden zu überwinden, und (3)
Vertrauen gewinnen und sich für die Transformation des eigenen Leidens einsetzen.
Als wir dieses anscheinend abstrakte Konzept in einer kindgerechten Weise präsentierten, stellten wir
fest, dass die Kinder, mit denen wir arbeiteten, über die bemerkenswerte Fähigkeit verfügten, das Leid
in ihrem Leben zu beschreiben und zu schildern, wie es ihr Wohlergehen beeinträchtigt. An einem
Nachmittag las ich das Gedicht „Whatif” von Shel Silverstein vor, das viele Sorgen beschreibt, welche
Kinder manchmal nächtelang beschäftigen können wie zum Beispiel krank oder nicht gemocht zu
werden oder in einer Prüfung zu versagen.
Nachdem ich das Gedicht vorgelesen hatte, blickte ich auf und fragte, ob jemand in der Klasse schon
einmal so ein „Was-wenn-Gefühl“ gehabt hat? Alle Hände wanderten nach oben. Mehrere Schüler
beschrieben detailliert Situationen, in denen sie sich wegen anstehender Klassenarbeiten,
Ballettaufführungen oder der Beziehung ihrer Eltern usw. zwanghaft Sorgen machen oder gestresst
sind. Sie konnten auch detailliert angeben, wie sich dieser Stress in ihrem Körper anfühlt, und
erzählten, dass sie in solchen Situationen oft versuchen, sich selbst zu beruhigen, indem sie sich
ablenken oder an etwas Positives denken. Wir knüpften an diese Erfahrungen an, um über das
Vertrautwerden mit den eigenen Stressauslösern zu sprechen. Dabei verglichen wir das frühzeitige
Erkennen von Stressanzeichen mit der Entdeckung von Ärger- und Stress-„Funken“, deren
rechtzeitiges Bemerken und Bekämpfen eine Ausdehnung zu flächendeckenden Waldbränden
verhindert. Bei einer Gelegenheit kam einmal ein Junge nach einer Schulstunde zu uns und sagte: „In
meinem Leben gibt es eine Menge solcher Waldbrände.“
Einen tieferen Einblick in die Ursachen des eigenen Leidens zu erhalten, erfordert Zeit. Für
Jugendliche, die traumatische Ereignisse überlebt haben, ist es gar nicht so leicht, darauf zu vertrauen,
dass sich ihr Leiden überwinden lässt. Die Jugendlichen in Pflegeverhältnissen lernten zwar besser zu
verstehen und wahrzunehmen, wie ihre eigenen Wahrnehmungen, Einschätzungen und
Reaktivitätsmuster zu ihren Stress- und Leidensgefühlen beitrugen oder diese verstärkten. Sie konnten
allerdings oft nur schwer glauben, dass sie Glück erleben könnten oder es überhaupt verdienten,
glücklich zu sein und geliebt zu werden. Ein Mädchen sagte dazu, die größte Angst in ihrem Leben sei
es, niemanden zu finden, der sie liebt, da sie sich selbst so wertlos und versehrt fühle. Es geht darum,
die Quelle solcher Gefühle zu erkennen. Deshalb stärkten wir diese Mädchen in ihrer Fähigkeit, an die
eigene Liebenswürdigkeit zu glauben und zu erkennen, dass es ihnen in ihrem Leben bereits oft
gelingt, Quellen der Liebe und Unterstützung zu finden. Für einige Jugendliche war die Einführung einer
„Mentoren“- oder „Wohltäter“-Übung hilfreich. Dabei können sie sich die Freundlichkeit, Liebe und
Unterstützung einer positiven Person oder eines Vorbilds in ihrem Leben ins Gedächtnis rufen. Diese
vorbereitende Aktivierung einer sicheren Bezugsperson kann ein hilfreicher Schritt in diesem Prozess
sein.
3. Unvoreingenommenheit entwickeln
Für die meisten Kinder ist es ganz natürlich und leicht, Mitgefühl für Familienmitglieder und Freunde zu
empfinden. Viel schwieriger ist es dagegen für viele von ihnen, Mitgefühl für Menschen zu empfinden,
die ganz anders sind als sie selbst oder die ihnen in irgendeiner Weise Verletzungen oder Unrecht
zugefügt haben. Damit Kinder Mitgefühl für alle Lebewesen entwickeln können, ist es wichtig, ihnen zu
vermitteln, dass sich alle Lebewesen gleichermaßen nach dem Glücklichsein sehnen. Zudem geht es
darum, ihnen zu verdeutlichen, wie unsere eigenen Vorurteile unsere Gefühle für andere und damit
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