Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 39

Unsere Kinder unterrichten
„Ich kann gar nicht glauben, dass ich das getan habe“, sagte die Jugendliche. „Als ich neulich auf dem
Weg zur Schule war, beobachtete ich, wie einem vor mir gehenden Mann Geld aus der Tasche fiel. Ich
rannte hin und nahm das Geld vom Boden auf. Es waren 20 Dollar! Ich war so aufgeregt! Das ist
unglaublich viel Geld für mich. Ich könnte damit die Schuhe kaufen, die ich mir so sehr wünsche –
diese echt süßen Schuhe – wenn ich dieses Geld hätte.“
Sie schaute mich an und schüttelte dann heftig den Kopf. „Doch dann sagte ich mir: Was wäre, wenn er
dieses Geld dringend braucht? Was wäre, wenn er gerade seinen Job verloren hat oder das Geld für
seine Kinder benötigt? Wie würde er sich fühlen, wenn er dieses Geld jetzt verliert? Ich konnte es
einfach nicht behalten. Ich holte ihn ein und gab ihm das Geld zurück.“
Ich war im Gespräch mit einem 16-jährigen Mädchen, das an unserem Kognitiven Mitgefühlstraining
(Cognitive Based Compassion Training – CBCT, siehe
in diesem Buch) für Jugendliche in
Pflegeverhältnissen in Atlanta teilnahm. CBCT ist eine säkularisierte Form der Mitgefühlsmeditation, die
ihre Wurzeln in der tibetanisch-buddhistischen Tradition des
Lojong
, einem „Geistestraining“, hat.
Dieses Programm strebt eine systematische Kultivierung des Mitgefühls an und setzt dieses Ziel über
die Entwicklung von Achtsamkeit, Emotionsregulation, Selbstmitgefühl, Gleichmut,
Perspektivübernahme und Empathie um.
Diese Jugendliche nahm bereits zum zweiten Mal am CBCT teil und erzählte den Kursteilnehmern, was
sie in der ersten Runde des Programms gelernt hatte.
„Wie hat es sich denn angefühlt, das Geld zurückzugeben?“ fragte ich lächelnd. „Klingt ganz so, als ob
du diese Schuhe wirklich haben wolltest!“
Wir lachten beide. „Ja, Sie haben Recht!“ sagte sie. „Aber ich musste einfach an den Mann denken. Ich
konnte gar nicht aufhören, über seine Situation nachzudenken, wie sein Leben vielleicht aussieht oder
wie er sich fühlen würde, wenn er das Geld verloren hätte ...!“
Ich nickte.
„Früher wäre mir das völlig egal gewesen“, sagte sie. „Diese Mitgefühlsmeditation macht etwas mit mir!”
Kognitives Mitgefühlstraining (Cognitively-Based Compassion Training – CBCT)
Ursprünglich wurde das CBCT-Programm 2005 als Angebot für Studierende der Emory University
entwickelt, um bei dieser Zielgruppe Depressionen und Stresserscheinungen vorzubeugen und zu
reduzieren. Doch die vielversprechenden Ergebnisse des Projektes
haben uns ermutigt, die
Möglichkeiten einer Anpassung von CBCT auch für andere Zielgruppen zu untersuchen (siehe
13)
. Neben dem Einsatz von CBCT als Mittel zur Stressreduzierung und zur Verbesserung der
Immunfunktion haben wir beispielsweise darüber nachgedacht, wie CBCT das prosoziale Verhalten und
die geistige Entwicklung fördern könnte oder die Auswirkungen früherer Traumatisierungen lindern
bzw. die Betroffenen vor diesen Auswirkungen schützen könnte. Im Folgenden beschreiben wir kurz
zwei unserer aktuellen Projekte – CBCT für Jugendliche in Pflegeverhältnissen und für Kinder in
Grundschulen – und stellen einige Beispiele dafür vor, wie wir dieses Programm für diese Gruppen
angepasst haben und unterrichten.
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