Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 50

Traktoren, Straßen (und Menschen, die die Traktoren und die Straßen bauen) und all dies braucht
natürlich ebenfalls Unterstützung! Der entscheidende Punkt dieser Denkarbeit wird schnell klar: Selbst
ein einfacher Gegenstand wie ein Pullover ist Teil eines Interdependenzgefüges, das ein riesiges Netz
von Beziehungen beinhaltet.
„Und wo endet das?” fragen wir. „Wo endet dieses Netz?”
„Es ist unendlich!” rufen die Kinder oft aufgeregt. „Man braucht die ganze Welt!”
Ein Gefühl für Interdependenz zu vermitteln, ist entscheidend für die Kultivierung von Empathie und
Zuneigung. Das verstärkt unser Gefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen und lässt spüren,
dass wir aufeinander angewiesen sind. Es kann uns auch bewusst machen, was andere, die wir oft gar
nicht kennen, Gutes für uns getan haben. Wir können Kinder und Jugendliche dabei unterstützen,
systematisch über solche Zusammenhänge nachzudenken, indem wir sie dazu anregen, in
„Dankbarkeitstagebüchern“ die Dinge zu notieren, für die sie jeden Tag dankbar sind. So lernen Kinder,
positive Dinge in ihrem Leben leichter zu erkennen und sich in ihrem Leben bereitwilliger auf diese
Aspekte statt ausschließlich auf die negativen Seiten zu konzentrieren.
Dieses Gefühl der Verbundenheit zu vertiefen, ist entscheidend. Und das kann auf ganz
unterschiedliche Weise erfolgen. Schülern Wege aufzuzeigen, wie sie sich auf das Leid anderer
einstellen können, haben wir als enorm hilfreich empfunden. Und wenn sie es, wie oben beschrieben,
lernen, sich auf ihr eigenes Leid einzustellen, lernen sie natürlich auch gleichzeitig, sich auf das Leiden
anderer einzustellen. Diesen Prozess versuchen wir dann zu verdeutlichen. So spielen wir mit jüngeren
Kindern oft Spiele, bei denen es darum geht, die Gefühle anderer im Körperausdruck darzustellen und
sich damit zu identifizieren. Dadurch unterstützen wir die Entwicklung des emotionalen Bewusstseins
und der emotionalen Intelligenz. Bei einem dieser Spiele liegen Karten mit Gefühlswörtern wie
„erschrocken“, „überrascht“, „verärgert“, „traurig“, „böse“, „hoffnungslos“, „dankbar“ usw. in einem Korb.
Wir bitten ein Kind, eine Gefühlskarte zu ziehen und dieses Gefühl dem Rest der Klasse vorzuspielen.
Die anderen Schüler sollen dann erraten, welches Gefühl ihr Mitschüler darzustellen versucht. Danach
tauschen wir uns mit den Schülern darüber aus, welche Anhaltspunkte ihnen bei der Identifizierung des
gespielten Gefühls geholfen haben. Und schließlich bitten wir den „Schauspieler“, seine Strategie beim
Ausdruck des betreffenden Gefühls zu beschreiben. Dabei achten wir darauf, dass genau beschrieben
wird, wie sich diese Gefühle im Körper anfühlen und wie wir besser erkennen können, wann wir in einer
bestimmten Art fühlen. Wir haben herausgefunden, dass bei Jugendlichen Empathie-Lesekreise auf
vielen Ebenen außerordentlich wirksam sind. Bei solchen Lesekreisen lesen die Schüler jede Woche
gemeinsam ein kurzes Kapitel eines Buches. Dabei lernen sie, Empathie für die Akteure in diesen
Geschichten zu entwickeln und diese Erkenntnisse in Beziehung zu ihrem eigenen Leben zu setzen.
Gleichzeitig erfahren sie dabei, wie wohltuend es ist, sich in einer sicheren, offenen und sensiblen
Weise mit anderen über ihre Gefühle auszutauschen.
Durch die größere Aufmerksamkeit füreinander und durch eine tiefergreifende Reflexion des eigenen
Leids gewinnen die Schüler dabei Einblick in das Leiden anderer, was oft eine vertiefte
Einfühlungsreaktion auslöst. Zum Abschluss des Trainings werden alle Teilnehmer gebeten, einen
positiven Aspekt, den sie über sich selbst erfahren haben, sowie einen Aspekt, an dem sie arbeiten
möchten, zu benennen. Ein Mädchen sagte: „Ich habe festgestellt, dass ich eine gute Freundin bin. Ich
bin treu und ich bin zuverlässig.“ Dann ergänzte sie: „Und ich möchte lernen, wie ich anderen
Menschen mehr trauen kann, weil ich erlebe, wie gut sich das anfühlt.“ Wir sind davon überzeugt, dass
diese Offenheit und Bereitschaft zur Verbundenheit mit anderen und zum Vertrauen anderen
gegenüber das Transformationspotenzial dieser jungen Menschen enorm verstärkt.
50
1...,40,41,42,43,44,45,46,47,48,49 51,52,53,54,55,56,57,58,59,60,...557
Powered by FlippingBook