Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 64

Rückmeldung gegeben hatte, war eine meiner stärksten Schülerinnen. Ich fragte mich, ob sie einfach
gerade gefühlsmäßig nicht von dem berührt war, was hier geschah. Am Ende sprach ich sie an und
fragte sie, ob auch sie bereit sei, etwas zu sagen. Und dann sagte sie: ‚Ach, ich möchte seine Gefühle
nicht verletzen.’ Und ich dachte: ‚Mmh, okay, vielleicht sollten wir dann einfach weitermachen.’ Doch
dann meinte sie plötzlich: ‚Aber ich glaube, ich weiß jetzt, wie ich es sagen möchte.’ Okay, dachte ich,
Sam hat jetzt schon so viel Liebe abbekommen, dass ihn eine kleine kritische Anmerkung auch nicht
umwerfen wird. Und er strahlt. Sie sagte: ‚Ich glaube, dass letzte Schuljahr war ziemlich hart für dich
und du hast ganz schön gekämpft. Ich kann mich daran erinnern, dass ich Angst hatte, du würdest es
nicht schaffen. Aber dann hast du in diesem Jahr so hart gearbeitet und du hast es immer wieder
geschafft - du bist so intelligent. Im letzten Jahr wusste ich das noch nicht, doch jetzt weiß ich es.’ Und
ganz ehrlich: Das war der Volltreffer. Denn alle anderen hatten Dinge gesagt, die Sam irgendwie schon
über sich selbst glaubte zu wissen oder wusste. Doch dieses Mädchen hatte etwas gesagt, was er über
sich selbst noch nicht wusste, und sie war in der Lage, das konkret zu formulieren.
Es war so wunderschön - ein berührender Moment. Das gesamte Gespräch hat vielleicht 35 Minuten
gedauert. Doch ich bin sehr sicher, dass ich ohne diese Intervention den Rest meines Lernprogramms
an diesem Tag hätte vergessen können. Als wir fertig waren, sagte ich: ‚So und jetzt wird wieder
gearbeitet.’ Und das taten wir dann auch. Es war, als ob sich die Wolken verzogen hätten. Im Raum
war eine völlig veränderte Stimmung zu spüren, die sehr kraftvoll war. Und wieder einmal dachte ich:
‚Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll’. Denn in den fünfzehn Jahren, in denen ich unterrichte,
habe ich nie eine derartige Erfahrung gemacht ... bei der ich darauf vertrauen konnte, dass meine
Kinder so liebevoll miteinander umgehen können, verstehen Sie?“
Bei der Unterrichtung von Güte und Mitgefühl geht es oft um Vertrauen. Die Anleitungen und die
Meditationen sollen keine neuen Inhalte vermitteln. Sie sind eher eine Möglichkeit, bereits
Vorhandenes zu entdecken, freizulegen und wieder miteinander zu verbinden. Wenn diese Verbindung
unterbrochen wurde, ist es oft sehr schwer, unseren eigenen Herzen und einander zu vertrauen. Für
Lehrer ist es sogar schwer, ihren jungen Schülern zu vertrauen, wie Linda es so ergreifend formulierte.
Es braucht Mut und einen offenen Geist, um die gewohnten Reaktionsmuster in Frage zu stellen. Das
ist sowohl Mary als auch Linda gelungen. Durch die Güte- und Mitgefühlsmeditationen konnte Mary ihre
gewohnten, von Vorwürfen und Wut geprägten Verhaltensmuster ausschalten und Anteilnahme und
Mitgefühl entdecken, die bei ihr schon immer vorhanden waren. So erhielt sie Zugang zu kreativen
Möglichkeiten, auch schwierigste Schüler zu erreichen. Linda experimentierte mit ihrer weicheren und
sanfteren Seite und stellte ihre Einstellung in Frage, dass man Verhaltensänderungen am effektivsten
mit Härte und Bestrafung erreicht.
Für viele Menschen läuft die Einladung, die eigenen Gefühle zu erleben und ihnen zu vertrauen,
jahrelanger Konditionierung und Akkulturation zuwider. Sowohl das Risiko als auch die Chancen der
Öffnung des Herzens werden im folgenden Zitat aus einem anderen Abschlussgespräch mit einem
Lehrer deutlich: „Für mich kommt diese Erfahrung nach einer Zeit, in der ich mich von meinen Gefühlen
praktisch abgeschnitten hatte. Ich gestand mir selbst nicht zu, irgendetwas Schlechtes zu fühlen. Das
hatte den wenig überraschenden Effekt, dass ich mir selbst nicht einmal zugestand, etwas Gutes zu
fühlen, obwohl eine Menge guter Dinge in meinem Leben passieren. Ich habe eigentlich gar nichts
mehr tief gefühlt, weil ich alles weggedrückt habe. Jahrelang dachte ich, dass Verletzlichkeit
angsteinflößend wäre – und das stimmt ja auch in einem gewissen Maße – sie ist aber auch ein echtes
Geschenk. Ich bin so dankbar. Diese Erfahrung hat mir dabei geholfen, mit dieser Verletzlichkeit
umzugehen und sie sogar als einen Schatz zu erleben, statt Angst davor zu haben und sie immer
wieder wegzudrücken.
Das Leben hat mir in dieser Woche die Möglichkeit geschenkt, das Gelernte in die Praxis umzusetzen.
Ich wollte meine Schüler dazu anregen, ihre eigenen emotionalen Schranken zu durchbrechen. Und ich
war überrascht, wie gut ich zeigen konnte, was empathisches Zuhören bedeutet. Mir sind wirklich
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