Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 61

Geschichte ihrer Begegnung mit einem anderen Schüler (Sam) und welche Kraft es hat, wenn man mit
Liebe und Mitgefühl auf schlechtes Verhalten reagiert:
„Eine weitere Sache, die ich äußerst skeptisch betrachtete, war die Geschichte, die sie uns über einen
Stamm in Afrika erzählte. Ich kann mich nicht mehr an den Namen dieses Stamms erinnern. Aber sie
erläuterte uns, dass in diesem Stamm alle Menschen im Dorf in ihren Tätigkeiten innehalten und einen
großen Kreis bilden, sobald jemand unter ihnen etwas Unrechtes tut. Der Übeltäter muss sich dann in
die Mitte des Kreises stellen und jeder erinnert ihn einfach an das Gute in ihm, und zwar solange, bis
sich der Übeltäter selbst an seine eigene Gutherzigkeit erinnert. Du bist ein wunderbarer Sohn, du bist
dies, du bist jenes. Alles klar? Und ich rollte meine Augen, als ich dies hörte, weil es sich so abgefahren
und naiv anhörte. So etwas macht man doch nicht mit Kindern, die sich daneben benehmen! Und dann,
ich weiß nicht warum, fühlte sich ein Teil in mir, der schon vor langer Zeit in der Versenkung
verschwunden war, von dieser Geschichte doch berührt. Und ich frage mich: ‚Warum muss ich diese
Geschichte so vernichtend kritisieren? Was hat sie eigentlich mit mir zu tun, dass ich darauf so
abweisend reagiere?’ Als ich am nächsten Tag in die Schule ging und meinen Kollegen davon
berichtete, sagten sie: ‚Machst du Witze? So was willst du in deiner Klasse ausprobieren?’ Und ich
sagte: ‚Nein, ich glaube nicht, dass ich das genauso präsentieren werde. Aber es ist einfach ein ganz
anderer Ansatz und ich bin mir nicht sicher, welche Richtung das nimmt. Vielleicht wird mir das
in
Zukunft
noch klar.’
Zwei Wochen später kam ein anderer Schüler, Sam, der
nicht
gerade zu meinen problematischsten
Schülern zählte, ziemlich verstört aus der Pause in den Unterricht zurück. Er war in irgendeinen Konflikt
mit seinen Freunden geraten. Das war überraschend, denn grundsätzlich war Sam sehr beliebt. Doch
diesmal kehrte er offensichtlich ganz unglücklich in die Klasse zurück, was im Übrigen auch für alle
anderen Schüler galt. Mir war sofort klar, dass ich nicht normal weiter unterrichten konnte. Aufregung
und Unruhe lagen förmlich in der Luft. Wir umkreisten das Problem eine Zeitlang, aber es schien darauf
hinaus zu laufen, dass Sam einfach nervig gewesen war: er ließ andere nicht so mitspielen, wie sie
selbst es wollten, er unterbrach andere und schrie sie an – Dinge also, die man macht, wenn man
genervt ist. Also sagte ich: ‚Weißt du, Sam, ich würde gerne ein Experiment machen. Dir steht es
absolut frei, dazu nein zu sagen. Aber ich glaube, es wäre großartig, das auszuprobieren.’ Sam zögerte,
willigte dann aber ein. Ich beschrieb den Prozess, wie er mir beschrieben worden war: Wir halten in
unseren Tätigkeiten inne, bilden einen Kreis und statt darauf herum zu hacken, was falsch gelaufen ist,
erinnern wir uns selbst und die Person daran, warum wir sie mögen, was sie zu einem wertvollen
Mitglied der Gemeinschaft macht und wie das aktuelle Verhalten es gerade jetzt schwierig für uns
macht, als Gemeinschaft zu funktionieren.
Ich bat ihn also, auf dem Teppich in der Mitte Platz zu nehmen. Und wir setzten uns im Kreis um ihn
herum. Ich sagte: ‚Du brauchst nicht zu reagieren. Aber ich würde mir wünschen, dass du zuerst
nachdenkst, bevor du es ablehnst, zu reagieren. Zum Schluss gebe ich dir dann noch mal eine
Möglichkeit, uns zu sagen, wie es dir geht.’ Oh, mein Gott. Diese Situation wird mir wirklich als eine der
besten Erfahrungen in meiner Rolle als Lehrerin in Erinnerung bleiben. Die Mitschüler sagten zunächst
einige Dinge, die man von Zweitklässlern so erwarten kann: ‚Du bist ein guter Freund’ oder ‚Du bist gut
im Basketball’. Aber dann hat es mich echt umgehauen. Eine meiner Schülerinnen, die sehr in sich
gekehrt ist und von der ich niemals erwartet hätte, dass sie auch nur einen Funken dessen wahrnimmt,
was sich um sie herum abspielt, sagte: ‚Ich mag es, wie du morgens in das Klassenzimmer kommst. Du
sagst immer Guten Morgen und hast dieses breite Grinsen auf deinem Gesicht und es sieht immer so
aus, als ob es dir gut geht. Mir geht es nicht immer so gut. Doch wenn ich dich dann anschaue, geht es
mir viel besser.’ Und sie war noch nicht einmal mit ihm befreundet! Und dann wurde es immer besser.
Die Schüler sagten Dinge wie: ‚Du kannst fantastisch um Entschuldigung bitten’ und ‚Wenn du dich
entschuldigst, bin ich gar nicht mehr sauer’. Mir standen die Tränen in den Augen und die Schüler
schauten mich mit einem fragenden Blick an, der wohl bedeutete: ‚Was ist los mit Ihnen?’ und ich sagte
so etwas wie ‚Gar nichts’. Es war so wunderbar. Das einzige Mädchen, das dem Jungen noch keine
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