Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 77

notwendigerweise direkt zu affiliativen Gefühlen, da es sich mit unseren Erinnerungen an die Kindheit
sowie mit schmerzhaften Erfahrungen im Zusammenhang damit verbindet. Mitgefühl zieht uns also in
den Sumpf des Leids hinunter und legt Dinge frei, die uns möglicherweise nicht bewusst waren. Wenn
wir an dieser Stelle mit einer mitfühlenden Haltung „verweilen“, können wir Heilung erfahren.
Verschiedene Arten von Selbstkritik und Selbsthass
Wenn Selbstkritik mit negativen Gefühlen sich selbst gegenüber, wie Enttäuschung, Wut, Verachtung
oder sogar Hass, verbunden ist, bedeutet dies für die Entwicklung von Selbstmitgefühl einen der
hinderlichsten Prozesse
Selbstverständlich sollten wir unsere Fehler erkennen können und
mitfühlende Maßnahmen zu deren Abhilfe oder künftigen Vermeidung ergreifen, was als mitfühlende
Selbstkorrektur (
engl. compassionate self-correction
) bezeichnet wird
Dahinter steckt jedoch der
aufrichtige Wunsch, mitfühlend und wirksam in der Welt zu sein und aus Fehlern zu lernen. Und dies
erfordert nicht nur ein affiliatives Gefühl, sondern auch Einfühlungsvermögen, moralische Reife und
zuweilen Mut (siehe
und Gilbert, 2009
. Bestimmte Formen der Selbstkritik sind allerdings
nicht in solchen Wünschen begründet, sondern liegen in der
Angst
vor Fehlern und davor, wie diese auf
uns zurückfallen und uns verletzlich machen.
Paul Gilbert
"Patients"
0:47 min
Es gibt verschiedene Arten der Selbstkritik, die unterschiedlich funktionieren
Eine Variante ist mit
dem Antriebssystem verbunden. So sind Menschen kritisch mit sich selbst, weil sie sich dazu antreiben
wollen, etwas zu erreichen, dabei Fehler zu vermeiden und sicherzustellen, dass sie sich noch mehr
anstrengen. Denn manche Menschen haben Angst davor, als unzureichend zu gelten, wenn sie
aufhören, etwas zu leisten. Sie wollen es unbedingt vermeiden, als minderwertig zu gelten oder „den
Anschluss zu verpassen“
Sie haben zwar Bedenken, sind aber davon überzeugt, es schaffen zu
können. Scheitern sie dennoch, werden sie in aggressiver Weise selbstkritisch. Man könnte Mitgefühl
für ein gutes Gegenmittel gegen solche Selbstkritik und Angst vor Unzulänglichkeit oder Scham halten.
Aber oft verfallen solche Menschen dem Irrglauben, Mitgefühl sei eine „weiche Lösung“, die schwächt,
das Interesse an Leistungen einschlafen lässt und einen deshalb eher scheitern lässt. Sie haben Angst
davor, beschämt zu werden, zurückgewiesen zu werden und/oder als Verlierer dazustehen und
schließlich den Anschluss zu verlieren. Mit den Worten eines Patienten: „Würde ich mich auf Ihren
mitfühlenden Weg einlassen, dann würde ich mich nicht mehr so anstrengen oder selbst antreiben.
Dann würde ich in meinen Bemühungen nachlassen und nie Erfolg haben.“ Solche Menschen fürchten
also Mitgefühl, weil es nach ihrer Einschätzung ihr Antriebssystem unterminiert. Bei einigen stark
antriebsrelevanten Störungen, wie etwa Anorexie, könnten Patienten Angst haben, ihre
„selbstschikanierenden Stimmen“ aufzugeben, weil sie ohne diese nicht wissen, wer sie sind oder was
sie tun sollen
Menschen, die Antrieb, Kontrolle und Erfolg zur Abwehr von Schamgefühlen nutzen,
werden oft ihr Leben lang zwischen Antrieb und Bedrohung hin- und hergerissen und fühlen sich nur
vorübergehend in Ordnung, wenn sie Erfolg haben. Die Entwicklung der Vorstellung, dass es eine
andere Möglichkeit der Beziehung zu sich selbst in Güte gibt, die nicht notwendigerweise den in
schwierigen Zeiten so hilfreichen Antrieb reduziert, ist manchmal ein längerer Lernprozess.
Eine zweite Form der Selbstkritik ist mit wesentlich mehr Abscheu, Missachtung und Hassgefühlen
gegenüber der eigenen Person verbunden
Solche Menschen sind nicht nur enttäuscht und wütend
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