Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 90

glückliches Leben können wir uns, wenn wir gelogen haben, dafür entschuldigen und anschließend die
Wahrheit sagen. Achtsamkeit übernimmt also die Funktion eines wichtigen Werkzeugs für eine positive
und gesunde Lebensführung. Sie hilft uns dabei, einen negativen und ungesunden Lebensstil zu
vermeiden und ermöglicht Kurskorrekturen, sobald wir uns einmal in negative Lebensweisen verirrt
haben. So führt eine aktive Achtsamkeit definitiv zu Wohlbefinden. Man fühlt sich präsenter und
betrachtet alles in einer umfassenderen Sichtweise. Und selbst wenn die Achtsamkeit eine böse
Absicht erkennt, erfolgt dies in Gelassenheit. Ich erkenne dann einfach, dass ich erneut auf dem
falschen Weg bin. Es entsteht kein Schuldgefühl, sondern eher ein Bedürfnis, das Schiff zurück auf den
Kurs der Ehrlichkeit zu lenken. Möglicherweise spürt man dann Bedauern, aber das ist nicht dasselbe
wie Schuld. Ich erkenne einfach, dass ich unehrlich war und werde aufrichtig versuchen, ein solches
Verhalten in Zukunft, insbesondere in ähnlichen Situationen, nicht zu wiederholen.
Versöhnlichkeit
Versöhnlichkeit eröffnet die Freiheit, Schmerz loszulassen. Sie befreit von Grollgefühlen, die manchmal
ein Leben lang vergraben waren und sich gegen andere richten. Denn auch unterdrückter Schmerz
wirkt sich wie eine dunkle Wolke auf unsere Gemütslage aus. Versöhnlichkeit ist das Lösungsmittel,
das den Klebstoff auflöst, der unsere Selbstgerechtigkeit festhält. Sie weicht das Gefühl von „Ich habe
Recht und du hast Unrecht, du hast mich verletzt“ auf. Wenn ich vergeben kann, erkenne ich die
Menschlichkeit anderer an. Niemand von uns ist perfekt. Wir alle machen Fehler. Wir alle sind
verblendet. Wir alle streben nach Glück, wissen aber nicht, wo es zu finden ist. Deshalb verfolgen wir
viele falsche und schädliche Absichten und denken, sie seien in unserem besten Interesse. Der uns
zugefügte Schaden konnte auf zweifache Art erfolgen – absichtlich oder unabsichtlich. Wenn die
Verletzung unbeabsichtigt war, lässt sie sich leichter vergeben. War sie jedoch beabsichtigt, ist das
schwieriger. Die Tatsache allerdings, dass die Verletzung absichtlich zugefügt wurde, bedeutet, dass
die andere Person nicht glücklich war. Die andere Person befand sich nicht in ihrem Gleichgewicht,
nicht in Harmonie mit sich selbst. Ansonsten hätte sie uns nicht verletzt. Sie befand sich mitten in einem
Konflikt. Glückliche und ausgeglichene Menschen verletzen keine anderen Menschen. Sobald wir den
Schmerz in demjenigen, der uns verletzt hat, erkennen, beginnen wir, unsere Herzen für eine
Vergebung zu öffnen. Wir beginnen zu erkennen, dass der Verletzende seine Beherrschung verloren
hat und selbst möglicherweise von jemand anderem verletzt wurde. Seine Verletzung erfolgte also in
Reaktion auf etwas Schmerzvolles, das er selbst erlebt hat. Es war fast so etwas wie eine
Reflexreaktion und geschah ohne großes Nachdenken. Ein Konflikt erzeugte also weitere Konflikte. Die
negativen Konsequenzen für jemanden, der einen anderen verletzt hat, sind in der Folge ziemlich
schwerwiegend. Wir brauchen uns diese Entwicklungslinien nur vorzustellen, damit unser Herz
erweicht. Das gibt uns mehr Raum, mehr Raum zum Atmen. Wir fühlen uns weniger eingesperrt und
weniger verärgert. Unser Vergeltungsbedürfnis nimmt ab. Wir werden entspannter und ruhiger. Unsere
Angst verringert sich. So öffnet sich automatisch unser Herz. Es beginnt mehr Liebe und Mitgefühl zu
fließen. Dieser Prozess braucht natürlich Zeit. Wiederholte Meditationspraxis ist erforderlich, um unsere
alten Gewohnheiten aufzubrechen und unser Herz mehr und mehr zu öffnen.
Ein wunderbares Beispiel für die Kraft der Vergebung hat uns Seine Heiligkeit, der Dalai Lama,
erzählt
Es ist die wahre Geschichte über einen Menschen, den er als seinen persönlichen Helden
bezeichnet. Diese Geschichte rührt uns zu Tränen. Richard Moore war 1972 gerade zehn Jahre alt und
lebte in Nordirland. Ein britischer Soldat schoss mit Gummigeschossen auf ihn, woraufhin Richard total
erblindete. Diese Tragödie hätte den Jungen zu einem zornigen und nachtragenden Mann machen
können. Aber Richard trug nie einen solchen Groll in sich. Er widmete sein Leben der Unterstützung
und dem Schutz anderer gefährdeter Kinder in der Welt. Und ihm war daran gelegen, den Mann zu
finden, der seine Erblindung verursacht hatte. Als sie sich schließlich begegneten, erzählte Richard
dem britischen Soldaten, dass er ihm vergeben habe. Heute sind die beiden Männer Freunde. Dieses
wunderbare Beispiel über die Kraft der Vergebung ist so bewegend, dass sie uns oft zum Weinen
bringt.
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