Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 88

es das. Wir können im Umgang mit anderen freundlich, aufmerksam und ehrlich sein und bei passender
Gelegenheit ein Lob aussprechen. Und wir können Trost und Beistand anbieten, wenn das erforderlich
ist. Wenn wir unsere Zeit einfach aufrichtig mit jemand anderem verbringen, öffnet sich unser Herz.
Dies alles sind Formen der Großzügigkeit, die keinen Wohlstand erfordern.
Wenn das materielle Schenken nicht ohne weiteres möglich ist, können wir auch damit beginnen, etwas
Kleines zu schenken, etwa einen Teil unserer Speisen, ein Lächeln oder einen Dollar. Vor jeder
Mahlzeit biete ich mein Essen geistig als etwas wirklich Besonderes meinem Lehrer und allen
Menschen und Tieren an, die hungrig sind. Nachdem wir zunächst kleine Dinge geopfert haben, können
wir das Angebot vergrößern und die Aktivität vertiefen. Manchmal biete ich allen, die unfrei oder blind
sind, ein wunderbares Landschaftsbild an. Die Motivation des Angebots ist wichtiger als die Menge.
Wenn wir an das Wohlergehen anderer denken, intensiviert bereits ein Angebot, das auf rein geistiger
Ebene erfolgt, die Erfahrung von Großzügigkeit. Wenn wir uns dem Empfänger überlegen fühlen und
mit einem Gefühl der Geringschätzung geben, reduziert sich dagegen die Kraft unseres Angebots.
Andere zu achten, indem wir uns daran erinnern, dass wir uns alle gleichermaßen nach Glück sehnen
und Leid vermeiden wollen, bereichert jedoch die Erfahrung des Gebens. Diese Haltung führt zu mehr
Respekt. Wenn wir emotionale Unterstützung, Sicherheit und Orientierung bieten, ist die Motivation
entscheidend. Wenn wir aus einer Haltung heraus handeln, die von Respekt für den anderen geprägt ist
– und zwar auch dann, wenn es der andere gerade sehr schwer hat – profitieren beide Seiten davon
am meisten. Großzügigkeit mit Achtung und ohne irgendeine Erwartung führt dazu, dass der
Empfänger seine Würde beibehält. Die Motivation, die darin besteht, zum Wohle eines jeden und zu
seinem letztendlichen Glück beitragen zu wollen, verstärkt die Wirkung des Gebens enorm. Und wenn
wir die Weisheit einfließen lassen, die erkennt, dass alles wie ein Traum ist, vertiefen wir das Geben.
Ich möchte im geistigen Sinne alles anbieten, was schön, köstlich und wohl klingend ist und zum Glück
eines jeden beiträgt. Nach einer solchen geistigen Opfergabe fühle ich mich friedlich und glücklich.
Wir können unsere Großzügigkeitspraxis – wie alle anderen ergänzenden Praktiken zur Intensivierung
des Mitgefühls – durch eine Kontextualisierung in Weisheit vertiefen. Weisheit betrachtet das Geben
nicht als Selbstverständlichkeit, sondern untersucht stattdessen die Beschaffenheit des Gebenden, das
Geschenk selbst und den Akt des Gebens genauer. Wenn wir erkennen, dass diese drei lediglich
Bezeichnungen und Konzepte sind, fühlen wir uns in Harmonie mit der Wirklichkeit. Die Wirkung
unserer Großzügigkeit wird dadurch verstärkt und es entsteht eine größere Kraft zur Transformation
unseres selbstsüchtigen Egos, das unsere verzerrte Wahrnehmung davon, wer wir sind, so eng
umschlingt (siehe
. Die daraus resultierende Loslösung bedeutet jedoch nicht Unnahbarkeit.
Ganz im Gegenteil. Sie bringt mich anderen näher, indem sie mein Bedürfnis, mich ständig auf mich,
nur auf mich und immer wieder auf mich zu konzentrieren, beseitigt. Hin und wieder, wenn ich mich der
Weisheit sehr nahe fühle und einen flüchtigen Blick darauf nehmen kann, fühlt sich das Herz offen und
glücklich an. Das ist kein aufgeregtes Glück. Es ist eher friedlich und mit einem Gefühl der
unermesslichen Weite verbunden. Der Atem wird leichter, voller und langsamer als normal. Ich fühle
mich dann, als ob ich aus meiner eigenen Tiefe heraus lächle.
Barry Kerzin
"Generosity"
1:12 min
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