Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 134

Selbstwahrnehmung und einem Selbstbild wiederfinden, deren Inhalte in den Dramen der Evolution
verstrickt sind. Meistens haben wir so wenig Kontrolle über und Einblick in diese Wirklichkeit, dass wir
einfach in Übereinstimmung mit unseren genetischen und sozial-kontextuellen Skripten leben und
sterben.
Zu dieser Einsicht zu gelangen, ist der entscheidende Aspekt einer Therapie, die sich Compassion
Focused Therapy (CFT
nennt. Denn so viele Menschen leben mit der tiefen Überzeugung, dass sie
leiden, weil
etwas in ihnen falsch
läuft, weil sie nicht richtig denken können, weil sie ihr Temperament,
ihre Angst oder ihr Essverhalten nicht kontrollieren können, weil sie nicht achtsam genug sind oder weil
sie in der Vergangenheit Schlechtes getan haben. So schleppen sie ein tiefes Gefühl der persönlichen
Scham oder einer „grundsätzlichen Liebesunwürdigkeit“ mit sich herum. Ein Patient formulierte es so:
„Ich habe immer gedacht, dass Gott, als er mich erschuf, gerade die guten Zutaten ausgegangen
waren.” Es ist sehr berührend, wenn Menschen die nicht-selbstgewählte Natur so vieler Gedanken, die
in ihren Köpfen herumgeistern, zu verstehen beginnen, oder wenn Selbstvorwürfe und Selbsthass
aufweichen und diese Menschen erkennen, dass unsere Potenziale zur Entwicklung von Wut, Zorn,
Panik, Angst, Paranoia, Depression oder Wahnvorstellungen gar nicht unser persönlicher Fehler sind,
sondern mit der Evolution des Gehirns und sozialen Einflüssen zusammenhängen. Diese Einsicht
befreit uns einerseits von Selbstvorwürfen, legt uns aber auch eine riesige Verantwortung auf. Denn wir
sind die einzige Spezies, die diese Einsicht haben kann sowie diese physische Wirklichkeit bewusst
wahrnehmen und beginnen kann, sich selbstbestimmt zu entscheiden, welche Art des Selbst wir
werden und in die Welt bringen wollen. Neben unseren vielen Schattenpotenzialen verfügen wir auch
über das Potenzial zu tiefem Mitgefühl und zu einem freudvolleren Erleben unserer Wirklichkeit, wenn
wir uns dem Mitgefühl für uns selbst und anderen öffnen (siehe
.
Der evolutionäre Ansatz
Der evolutionäre Ansatz beschäftigt sich mit der Beschaffenheit des Lebensflusses – von der
Entstehung der ersten einzelligen Organismen, ihrem Bedarf an Membranen, der das Gefühl einer
körperlichen Getrenntheit von ihrem Umfeld begründet (der Beginn des „getrennten Selbst“), über
komplexe Organismen wie frühe Trilobiten und Fische hin zu den Säugetieren und schließlich den
Menschen. Obwohl zuweilen behauptet wird, die Vorstellung von einem getrennten Selbst sei eine
Illusion, gäbe es ohne ein getrenntes körperliches Selbst keine biologische Form, keine Evolution und
keine Evolution des Geistes an sich. Evolution ist ein über Adaptation erfolgender
Veränderungsprozess und wird durch die Einflüsse evoziert, die auf Individuen einwirken. Was bereits
vergangen ist, wirkt sich auf das aus, was später kommen kann. Also entwickeln sich Spezies wie die
unsrige aus früheren Versionen (wir hatten vor rund sechs Millionen Jahren einen gemeinsamen
Vorfahren mit dem Schimpansen) und geben grundlegende Merkmale für Körper und Geist mit
Emotionen und Motiven weiter.
Die Evolution des Grunddesigns
Wenn wir uns in den Fluss des Lebens hineinversetzen, können wir erkennen, dass Körper und Geist
ihre Formen und Gestalten aufgrund der Evolution angenommen haben. Unser tragendes Skelett mit
Brustkorb und Wirbelsäule hat seine Ursprünge im Meer. Die meisten Säugetiere sind mit vier
Gliedmaßen und zwei Ohren und Augen sowie Atmungs-, Herz-Kreislauf-, Lymph- und
Verdauungssystemen ausgestattet. Die meisten Säugetiere bringen ihren Nachwuchs auf die gleiche
Weise zur Welt und kümmern sich eine gewisse Zeit lang um ihren Nachwuchs. Unsere Grundhormone
Testosteron und Östrogen funktionieren bei uns ähnlich wie bei bestimmten Tieren. Die meisten
unserer Neurotransmitter, etwa Dopamin oder Serotonin, finden sich auch bei Tieren wieder (siehe
auch
.
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