Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 252

Ob diese Auswirkungen von Mitgefühlstraining auf die autonomen, neuroendokrinen und immunen Reaktionen
auf Sozialstress auch in anderen Altersgruppen auftreten oder in Populationen mit medizinischen oder
psychiatrischen Erkrankungen, ist nicht bekannt. Interessanterweise ergab eine kürzliche mit 71 Jugendlichen
aus staatlichen Pflegeeinrichtungen durchgeführte Studie allerdings, dass der zeitliche Umfang von
Mitgefühlsübungen während einer sechswöchigen Trainingsphase mit Reduzierungen von Entzündungen im
Ruhezustand verknüpft war, wie durch die Speichelkonzentrationen des Akute-Phase-C-Reaktiven-Proteins
(CRP)
indiziert wird
. Diese Ergebnisse sind deshalb so ermutigend, weil die CRP-Spiegel in
dieser Population zu Beginn der Studie sehr hoch waren – entsprechend dem hohen Maß an frühkindlicher
Traumatisierung von Kindern, die in US-Pflegeeinrichtungen leben und den wiederholt festgestellten
Zusammenhängen zwischen frühkindlichen Notlagen und einem erhöhten CRP-Spiege
. Ob diese durch
Meditation induzierten Reduzierungen von Entzündungsreaktionen auch nach dem Trainingsprogramm
fortbestehen und/oder sich in einen langfristigen Schutz gegen Krankheit übersetzen lassen, zählt zu den
wichtigsten unbeantworteten Fragen im Forschungsbereich von Mitgefühl und Endokrinologie/Immunologie.
Zusammenfassung und zukünftige Ausrichtungen
Es gibt mittlerweile viele Studienergebnisse, welche die Rolle endokriner Faktoren für die Bausteine des
menschlichen Mitgefühls unterstreichen. Dies gilt insbesondere für Oxytocin, wenn auch die Funktion solch
hormoneller Faktoren für ein universelles Mitgefühl, wie es von den spirituellen Welttraditionen vermittelt wird,
weniger eindeutig ist. Genauso wenig hat man bislang definitiv verstanden, ob und wie das Oxytocin-System
an Aspekten der sozialen Kognition beteiligt ist, die mit Mitgefühl in Form von Empathie und
Perspektivübernahme assoziiert werden, oder an den Prozessen, durch die Empathie in Mitgefühl übersetzt
werden kann. Wesentliche epidemiologische Daten unterstützen darüber hinaus die Vorstellung, dass
prosoziale Emotionen und eng mit Mitgefühl zusammenhängende Verhaltensweisen tatsächliche mentale und
körperliche Gesundheitsvorteile bieten. Weniger eindeutig ist, ob Mitgefühlsschulungen diese assoziativen
Ergebnisse in Instrumente mit therapeutischem Potenzial übersetzen können, wenn auch vorläufige
Ergebnisse in dieser Hinsicht vielversprechend sind. Für künftige Studien wird es essentiell sein, die
Reaktionswege zu identifizieren, über die vermehrte mitfühlende Gedanken und Handlungen
gesundheitsrelevante Veränderungen in Hormonsystemen und Immunfunktionen erzeugen. Für die Forschung
wäre es beispielsweise eine interessante Herausforderung, herauszufinden, ob und wie durch
Mitgefühlsmeditationen induzierte Veränderungen in der Oxytocin-Funktion mit Veränderungen in der HPA-
Achse und Immunreaktionen auf die Arten von Stresssituationen zusammenhängen, welche empathisches
Verhalten oft beeinträchtigen und dabei oft krank machen.
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