Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 245

durch Defizite oder Anomalitäten im Sozialverhalten und Empathie charakterisiert sind. Interessanterweise
scheinen sie darüber hinaus die Struktur und funktionale Kopplungen von Hirnregionen – einschließlich des
Hippocampus
und der
Amygdala
– zu beeinflussen, die eine entscheidende Rolle im Umgang mit Stress und
Gefahr, insbesondere im sozialen Kontext, spielen
[6]
.
Wenn Oxytocin so entscheidend für Vertrauen, Bindung und kognitive/emotionale Zustände ist, die für
Mitgefühl von Relevanz sind, könnte man Studienergebnisse vermuten, die einen verlässlichen
Zusammenhang zwischen erhöhten Oxytocin-Spiegeln und einem stärkeren Mitgefühl zeigen. Tatsächlich ist
die Datenlage zu Oxytocin-Gehalt und Zuständen, die in Beziehung zum Mitgefühl stehen, sehr uneinheitlich –
was die Forschungsaktivitäten auf diesem Gebiet seit Jahren eher gehemmt hat. Wir vermuten, dass das
Fehlen unwiderlegbarer Beziehungen zwischen Oxytocin-Gehalt und Empathie/Mitgefühl auch damit
zusammenhängt, dass sich Oxytocin in den entscheidenden Situationen nicht so leicht messen lässt. So ist
eine direkte Messung des Oxytocin-Gehalts im Gehirn lebender Menschen im Unterschied zu Versuchstieren
nicht möglich. Der Oxytocin-Gehalt ließe sich zwar in der Rückenmarksflüssigkeit nachweisen. Dazu wäre
aber eine Rückenmarkspunktion erforderlich. Und solche Messungen von Oxytocin-Anteilen in der
Rückenmarksflüssigkeit (und deren Auswertungen) kann man in etwa mit dem Versuch vergleichen, die
Funktionsweise einer Stadt durch die Untersuchung ihrer Abwassereinleitungen nachzuvollziehen – was nicht
unmöglich ist, aber bei Weitem nicht ideal. In vielen Studien wurde bereits der Oxytocin-Spiegel im Blut
untersucht. Doch das Problem dabei ist, dass die Zusammenhänge zwischen Blut-Oxytocin und Oxytocin-
Aktivität im Gehirn noch völlig unklar sind
[9]
. Einige Indizien legen jedoch nahe, dass es einen
Zusammenhang zwischen Empathie und Oxytocin-Blutspiegel gibt. So kam zum Beispiel eine Studie zu dem
Ergebnis, dass beim Anschauen von Videoclips, die speziell auf das Auslösen empathischer Gefühle für
andere abzielten, selbstberichtete Zunahmen von Wärme und Mitgefühl (nicht aber von Leid) messbare
Erhöhungen des Oxytocin-Blutspiegels um fast 50% zur Folge hatten, die wiederum mit einer nachfolgenden
höheren Großzügigkeit gegenüber anderen in Beziehung stande
.
Der Durchbruch für Oxytocin-Studien kam mit der Entdeckung, dass sich das Hormon über Nasenspray direkt
an das Gehirn verabreichen lässt. Nachfolgende Untersuchungen zeigten, dass intranasal verabreichtes
Oxytocin vielfältige Effekte mit direkter Relevanz für das Mitgefühl hervorruft, wie: 1.) Großzügigkeit gegenüber
anderen
, 2.) Gefühle des Vertrauens
3.) Länge des Augenkontaktes mit anderen Mensche
und
4.) die Fähigkeit, die Gefühlslagen anderer anhand ihres Gesichtsausdrucks akkurat zu bestimmen
.
Oxytocin-Gaben erhöhen die einfühlende Anteilnahme von Menschen für Verbrechensopfer, ohne dabei den
Wunsch zu verstärken, die Täter zu bestrafe
, und lösen, als Reaktion auf Säuglingsschreie,
Veränderungen in der Gehirnaktivität aus, die wiederholt mit Empathie assoziiert wurden
. Schließlich
konnten Studien aufzeigen, dass intranasale Oxytocin-Gaben die Empathiegefühle sowohl bei Männern als
auch Frauen verstärken – wobei sie tatsächlich die Empathiewerte der Männer auf jene bei den Frauen vor
der Oxytocin-Gabe gemessenen Werte anheben!
Doch neuere Untersuchungen haben auch eine potentielle Schattenseite von Oxytocin zum Vorschein
gebracht – zumindest in Bezug auf den Ausdruck universellen Mitgefühls, welcher das Ziel vieler meditativer
und spiritueller Praktiken ist. Es ist schon lange bekannt, dass Menschen dazu tendieren, andere Menschen
zu bevorzugen, die ihnen aus ihrer Sicht ähnlich sind und/oder zu ihrer Gruppe gehören. Oxytocin scheint
tatsächlich die Unterscheidung zwischen Gruppenzugehörigkeit und Nichtgruppenzugehörigkeit zu verstärken,
sodass das Verhalten gegenüber gruppenzugehörigen Menschen kooperativer und fürsorglicher und das
gegenüber nicht zur Gruppe gehörenden abwehrender wird
. Oxytocin scheint zwar nicht feindlicher oder
hasserfüllter gegenüber nicht zur Gruppe gehörenden Menschen (die als unterschiedlich zu sich selbst
wahrgenommen werden) zu machen, es macht aber genauso wenig den Kreis derer größer, für die man
Empathie oder Anteilnahme empfindet. Derartige Ergebnisse haben einige Wissenschaftler veranlasst,
Oxytocin statt als „Liebeshormon“ eher als „Stammeshormon“ zu charakterisieren. Dies wirft eine äußerst
wichtige und interessante Frage zum Zusammenhang zwischen Oxytocin und Mitgefühls-Meditationspraktiken
auf, die nach unserem Kenntnisstand noch nie untersucht wurde: Wird durch Mitgefühlspraxis eine verstärkte
Funktion des Oxytocin-Systems im Gehirns ausgelöst, die es dem Meditierenden möglich macht, immer mehr
Menschen als gruppenzugehörig zu betrachten? Oder unterdrückt die Mitgefühlspraxis die durch Oxytocin
induzierte Tendenz, sich nur um Menschen zu sorgen, die man zur eigenen Gruppe zählt?
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