Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 248

Wie wir alle aus eigener Erfahrung wissen, fördern Stresssituationen typischerweise nicht gerade unsere
fürsorglichsten Verhaltensweisen gegenüber anderen. Studien scheinen das zu bestätigen, vor allem wenn
der Stressor sozialer Natur ist. So zeigen zum Beispiel Menschen, die in einem experimentellen Paradigma
sozial ausgeschlossen werden, anschließend ein geringeres prosoziales Verhalten gegenüber andere
. In
diesem Zusammenhang ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass Oxytocin stressbezogene
Hirnaktivierungsmuster (d. h. Aktivierung der
Amygdala
) in Reaktion auf sozial bedrohliche Bilder oder auch
die Ausschüttung von Cortisol und Reaktionen des autonomen Nervensystems auf im Labor erzeugte soziale
Stressoren reduziert
[7]
,
In ähnlicher Weise fördert dasselbe Oxytocin-Rezeptor-Gen, das mit weniger
Empathie assoziiert wurde, erwiesenermaßen erhöhte autonome Stressreaktionen
Diese Untersuchungsergebnisse könnten vermuten lassen, dass Cortisol und andere Stressmediatoren
„Antimitgefühls“-Stoffe sind. Doch wie so oft in der Biologie ist die Wahrheit komplexer – und interessanter.
Tatsächlich gibt es aussagekräftige Datenbelege dafür, dass Menschen, die weder auf soziale Stressoren
noch auf die Notlage anderer wirksame Belastungsreaktionen aktivieren können, ein erhöhtes Risiko für einen
Wesenszug aufweisen, der als Gefühlskälte bezeichnet wird. Diese Gefühlskälte steht im Allgemeinen
Empathie und anderen Voraussetzungen für Mitgefühl grundsätzlich entgegen und verhindert auch adäquate
Reaktionen auf soziale Bedrohung
. Für Cortisol wurde dieser Effekt umfassend untersucht. Bei Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen wurden niedrigere Cortisolspiegel wiederholt mit einem Mangel an Empathie
und anderen Wesenzügen in Verbindung gebracht, die zu Psychopathien beitragen, bei denen etwa die
Unfähigkeit zu lieben oder die Unfähigkeit zum Aufbau bedeutungsvoller persönlicher Beziehungen
diagnostiziert wird. Solche geringeren Cortisolspiegel wurden sowohl im Ruhezustand als auch bei
Cortisolreaktionen auf soziale Stressoren beobachtet. Ein Mangel an Empathie wurde aber nicht nur mit einer
verminderten Cortisolerzeugung/-ausschüttung, sondern auch mit einer Abflachung der tageszyklischen
Cortisolausschüttung assoziiert – eine Anomalität, die bei vielen Krankheiten und schwerer Depression –
ebenfalls ein Zustand, der mit reduzierter Empathie in Zusammenhang gebracht wird – zu beobachten is
.
Interessanterweise – und von Bedeutung für die experimentellen Ergebnisse, die wir als nächstes beschreiben
– legen andere Studien nahe, dass Umfeld-bedingte Schwierigkeiten in einer Untergruppe von Kindern, die
ein chronisches antisoziales Verhalten und gleichzeitig erhöhte zirkulierende Cortisol-Konzentrationen zeigen,
ein bedeutender Faktor sein könnte
. Im Gegensatz dazu scheinen solche in der frühen Kindheit erlebten
Widrigkeiten bei Kindern, die Merkmale von Gefühlskälte und mangelnder Empathie zeigen und gleichzeitig
geringe zirkulierende Cortisol-Konzentrationen aufweisen, keine Rolle gespielt zu haben
Führt eine Schulung, die Menschen mitfühlender macht, demnach zu einer Verringerung der Cortisolaktivität,
wie man aus der Fähigkeit des Oxytocin schließen würde, Cortisol zu reduzieren? Oder erhöht ein
Mitgefühlstraining die Cortisolaktivität, wie man aus der Feststellung schließen könnte, dass ein geringer
Cortisolspiegel mit einem Mangel an Empathie einhergeht? Obwohl diese Frage an dieser Stelle nicht definitiv
beantwortet werden kann, enthalten die von unserer Gruppe gewonnenen Daten verblüffende Anhaltspunkte
dafür, dass die Antwort „weder noch” lautet
. Wir unterrichteten bei medizinisch und psychiatrisch
gesunden Erstsemestern ein sechswöchiges, mitgefühlsbasiertes Trainingsprogramm, das CBCT-Programm
(siehe weitere Informationen dazu in
und
, und ließen sie zudem entweder vor oder nach den
sechs Wochen Meditationstraining an einem standardisierten psychosozialen Stressor-Labortest (Trier Social
Stress Test [TSST]) teilnehmen. Während wir keine Effekte des Mitgefühlstrainings schlechthin auf die
Cortisolreaktionen durch den TSST feststellen konnten (im Vergleich zu einer aktiven Kontrollgruppe – einer
Gesundheitserziehungs-Gruppe), konstatierten wir aber innerhalb der Meditationsgruppe eine interessante
Verbindung zwischen dem Ausmaß der Meditationspraxis und der Cortisolreaktion. Bei den Teilnehmern, die
während der Studie zu Hause in erheblichem Umfang Meditationen praktizierten, war zwar keine geringere
Cortisol-Erhöhung in Reaktion auf den Stressor festzustellen. Allerdings kehrte ihr Cortisolspiegel wesentlich
schneller auf das vor dem Belastungstest bestehende Niveau zurück als bei Menschen mit einer nur
minimalen Meditationszeit während der Studie (
Diese Ergebnisse lassen uns vermuten, dass
ein Mitgefühlstraining geeignete Akutbelastungs-Reaktionen aufrechterhalten und gleichzeitig nicht-adaptive
Belastungsreaktionen, nachdem der Stressor längst nicht mehr aktiv ist – also dieses „Herumkauen auf
Dingen“, das laut vielen Studienergebnissen das Risiko für Depression, Wut und zahlreiche körperlichen
Erkrankungen nachweislich erhöht –, verringern kann
.
Mitgefühl, Endokrinologie und das Immunsystem
 Wir haben bereits erörtert, dass am Mitgefühl beteiligte endokrine Hormone, insbesondere Oxytocin und
Cortisol, Stressreaktionen und Mitgefühl
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