Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 244

Adenohypophyse
, die wiederum viele andere Drüsen und Organe des Körpers, wie Schilddrüse, Nebennieren
und Geschlechtsorgane, beeinflussen. Eine zweite wichtige hormonelle Aufgabe des Hypothalamus besteht in
der Produktion von
Oxytocin
sowie des eng damit verbundenen Hormons
Vasopressin
. Beide Hormone
werden über Nervenfasern (Axone) zur posterioren Hypophyse (oder dem Hypophysenhinterlappen)
transportiert, von welcher sie dann ausgeschüttet werden.
Da sich dieses Kapitel in erster Linie auf die Endokrinologie des Mitgefühls und nicht auf die Endokrinologie
als solche konzentriert, erwähnen wir hier nur beiläufig einige der vielen wichtigen, vom
Hypophysenvorderlappen ausgeschütteten Hormone, wie das
Thyreoidea-stimulierende Hormon (TSH)
, das
die Schilddrüse steuert, sowie das
Follikel-stimulierende Hormon (FSH)
und das
luteinisierende Hormon (LH)
,
die gemeinsam die menschlichen Geschlechtsorgane beeinflussen und damit die sexuelle Entwicklung,
Sperma- und Eiproduktion sowie den Menstruationszyklus steuern.
Ein Hormonsystem verdient an dieser Stelle allerdings zusätzliche Erläuterungen, nämlich die
Hypothalamus-
Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA)
, die so genannt wird, weil sie vom Hypothalamus über die
Hypophyse und von dort hinab bis zur Nebenniererinde im Bauchraum reicht. Zusammen mit dem
autonomen
Nervensystem
ist die HPA-Achse das wesentliche Stressreaktionssystem des Körpers. Ihr Endprodukt, das
Glukocorticoid mit der Bezeichnung
Cortisol
, ist der scheinbar wichtigste stressrelevante Wirkstoff des
Körpers
. Wir sagen „scheinbar“, weil Cortisol auch die merkwürdige Aufgabe der Rückkopplung
an die HPA-Achse übernimmt, um sich selbst zu deaktivieren, womit es als wahrscheinlich wichtigster
Antistressstoff des Körpers fungiert. Cortisol übernimmt bekanntlich auch entscheidende regulierende
Funktionen im Immunsystem und hat unzählige weitere physiologische Auswirkungen auf Gehirn und Körper,
deren Beschreibung den Rahmen dieses Kapitels sprengen würde. Aber wie wir sehen werden, scheint
Cortisol eine wichtige Rolle für Mitgefühl und ähnliche Zustände wie Empathie zu spielen – möglicherweise
insbesondere im Kontext von Stress, der bekanntlich die Fähigkeit der Menschen zur Aufrechterhaltung
mitfühlender Haltungen beeinträchtigt.
Nach diesem kurzen Überblick über das Hormonsystem wollen wir uns jetzt der näheren Betrachtung von
Zusammenhängen zwischen Mitgefühl/Empathie und Oxytocin sowie Cortisol zuwenden. Aus Gründen der
Kohärenz mit anderen Kapiteln in diesem Buch definieren wir Empathie als Resonanz mit dem
Gefühlszustand anderer und im Unterschied dazu Mitgefühl als das Bestreben, das Leid anderer zu lindern.
Daher interessiert uns hier besonders, wie Mitgefühl durch seine Auswirkung auf hormonelle Systeme sowie
das autonome Nervensystem indirekt zur Stärkung des Immunsystems beitragen kann.
Zusammenhang zwischen Oxytocin und Mitgefühl sowie verwandten emotionalen und kognitiven
Zuständen und Verhaltensweisen
In den letzten zehn Jahren hat sich das Interesse an Oxytocin von seiner Funktion im Bereich der Mutter-
Kind-Beziehung, zu einem populären Thema sowohl in der Wissenschaft als auch der Presse gewandelt, was
vor allem mit seiner Entdeckung als „Liebeshormon“ zusammen hängt. Wie wir sehen werden, trifft diese
Charakterisierung allenfalls einen Teil der Wahrheit, aber durchaus mit einer gewissen Berechtigung. Die
Geschichte des Oxytocins in Bezug auf soziale Interaktionen begann mit einer Reihe von Studien, in denen
nachgewiesen wurde, dass die Oxytocin-Funktion im Gehirn die bemerkenswert unterschiedlichen
Verhaltensmuster von zwei eng miteinander verwandten Unterarten der Wühlmaus erklärt
So pflegen
Präriewühlmäuse lebenslange monogame Beziehungen zu ihren Partnern und weisen in den zentralen
Hirnregionen, insbesondere im
Nucleus accumbens
– einer Region, die wiederholt mit Belohnung,
Verstärkung und Motivation assoziiert wurde – eine hohe Zahl von Oxytocin-Rezeptoren auf. Bergwühlmäuse
dagegen sind grundsätzlich promiskuitive Einzelgänger und in deren Gehirnen findet man eine wesentlich
geringere Oxytocin-Aktivität. In Studien konnte zudem gezeigt werden, dass loyale, liebevoll miteinander
umgehende Präriemäuse das Verhalten ihrer eher gefühlslosen Bergverwandten annehmen, sobald man die
Oxytocin-Aktivität in ihren Gehirnen unterbricht.
Zunehmende Hinweise legen inzwischen nahe, dass Oxytocin beim Menschen grundsätzlich eine ähnlich
entscheidende Rolle für soziale Prozesse und insbesondere für prosoziale Emotionen spielt. Mehrere Studien
konnten beispielsweise zeigen, dass es Zusammenhänge zwischen genetischen Varianten des für Oxytocin-
Rezeptoren verantwortlichen Gens und prosozialem Verhalten und Empathie gibt.
[7]
,
Ebenso treten
diese Varianten häufig bei neurologischen oder psychiatrischen Störungen wie Autismus auf, die wiederum
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