Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 241

Achten Sie auf Ihre Hormone!
Glaubt man der wissenschaftlichen Literatur, hat das Mitgefühl unter allen menschlichen Emotionen und
Verhaltensweisen die größten hormonellen Einflüsse. Oder, um es genauer zu formulieren: Viele
wissenschaftliche Studien finden überzeugende Beweise dafür, dass das Mitgefühl und seine konstituierenden
Komponenten, wie etwa Empathie, sowohl endokrine Faktoren beeinflussen als auch umgekehrt selbst von
diesen beeinflusst werden. Diese bidirektionalen Beziehungen zwischen dem menschlichen Hormonsystem
und dem Mitgefühl bilden den Schwerpunkt dieses Kapitels.
Begriffsdefinitionen
Die
Endokrinologie
ist das Gebiet der Medizin, das sich mit allen Aspekten der Produktion, Freisetzung,
Aufnahme und den körperlichen Auswirkungen von Hormonen beschäftigt.
Hormone
wiederum sind von einem
Gewebe produzierte Wirkstoffe (üblicherweise Peptide oder Steroide), die über den Blutstrom zu einem
anderen Gewebe transportiert werden und physiologische Aktivitäten wie Wachstum oder Stoffwechsel in
diesem zweiten Gewebe steuern. Früher ging man davon aus, dass Hormone von speziellen Drüsen
produziert werden, die sich von dort über das Blut ausbreiten, um ihre Wirkung in vielen anderen
Körpergeweben zu entfalten.
Neuere Entdeckungen haben jedoch, wie so oft in der Wissenschaft, dieses einfache Bild in einer Weise
verkompliziert, die für unsere Überlegungen hier von direkter Relevanz sind. So fungieren etwa Substanzen,
bei denen es sich um Hormone im Körper handelt, oft als Neurotransmitter im zentralen Nervensystem (ZNS).
Ein klassisches Beispiel dafür ist das Peptidhormon Oxytocin, das in diesem Kapitel ausführlich behandelt
wird. Oxytocin wird hauptsächlich im Hypothalamus, einer alten Region an der Gehirnbasis, erzeugt, wo viele
weitere hormonartige Stoffe mit grundlegenden Auswirkungen auf das Verhalten produziert werden. Viele
Jahre war Oxytocin in der Medizin hauptsächlich wegen seiner Wehen auslösenden und die Geburt
beschleunigenden Wirkung sowie der Förderung des Milchflusses beim Stillen bekannt. Hier übernimmt
Oxytocin eine klassische Hormonfunktion: Es wird in einem Gewebe (dem Gehirn) produziert und strömt über
das Blut in andere Gewebe (Uterus und Brust), wo es seine Wirkungen entfaltet. Forschungsergebnisse der
letzten zehn Jahre haben jedoch darüber hinaus fundamentale Einflüsse von Oxytocin unmittelbar auf das
Gehirn nachgewiesen, die direkt mit dem Sozialverhalten von Menschen und Säugetieren zusammenhängen,
wozu auch die Empathie zählt
[1]
,
[3]
,
In dieser Funktion verhält sich Oxytocin eher wie ein
Neurotransmitter und nicht wie ein klassisches Hormon. Dabei ist Oxytocin bei weitem nicht das einzige
Hormon mit multiplen Funktionen. So hat auch das in diesem Kapitel besprochene klassische Hormon Cortisol
so weitreichende Auswirkungen auf das Immunsystem, dass man es sowohl für ein endokrines Molekül wie
auch für einen Immunbotenstoff halten könnte.
Das endokrine System aus der Vogelperspektive
Die Feinheiten der weitreichenden und komplexen endokrinen Prozesse im Körper gehen weit über das
hinaus, was wir in diesem kurzen Kapitel beschreiben können.
Deshalb müssen wir uns mit einer vereinfachten Darstellung zufrieden geben, die nur die wesentlichen
Aspekte der hormonellen Organisation und Funktionsweise berührt – ein Blick aus der Vogelperspektive auf
die wichtigen Eckpunkte der endokrinen Geografie.
Wahrscheinlich haben alle Hirnareale auf die eine oder andere Art Einfluss auf das Hormonsystem. Dem
Hypothalamus
kommt jedoch eine besondere Bedeutung in der Endokrinologie zu, da er als Hauptschleuse
für die meisten der wichtigen hormonellen Pfade im Körper fungiert. Zudem repräsentiert er die Hirnregion, die
sowohl funktionell als auch körperlich am engsten mit dem wichtigsten endokrinen Organ des Körpers, der
Hypophyse
, verbunden ist
Ausgelöst durch Signale anderer Hirnregionen und des Körpers
schüttet der Hypothalamus zahlreiche Hormone aus, die über eine kleine, spezielle Blutstromverbindung zum
anterioren (oder vorderen) Teil der
Hypophyse
strömen. Diese Hormone stimulieren die Produktion und
Ausschüttung einer Vielzahl weiterer Hormone durch den
Hypophysenvorderlappen
oder die
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