Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 231

Zusammengefasst repräsentiert die I/I-Achse, die eine mit den attentionalen und affektiven
Bereichen verbundene kognitive Grundlage hat, zwei Wertigkeiten: Intention und Einsicht. Diese
interdependenten Werte erzeugen geistige Beweglichkeit und Urteilskraft und können ein
kontextsensitives, grundsätzliches Mitgefühl begründen.
E/E-Achse und ethisches Beteiligtsein und Verkörperung
Die E/E-Achse besteht aus dem somatischen Prozess, der mit Verkörperung und Beteiligtsein
verbunden ist. Die E/E-Achse ruft drei wichtige Eigenschaften hervor: Ethik (moralische Tugend),
Gleichmut und Eudämonie. Die E/E-Achse basiert auf einem enaktiven Prozess, bei dem
Verstand, Körper und Umfeld Kontexte füreinander liefern und die Mittel zur Erzeugung der
verkörperten Dimension der intersubjektiven, wechselseitigen, geerdeten und interaktiven
Prozesse werden, die mit Mitgefühl verbunden sind. Die Verkörperung kann als die Quelle des
gefühlten Leids eines anderen durch die Erfahrung der intersubjektiven Resonanz bezeichnet
werden, wobei sich das Erleben eines anderen so anfühlt, als ob es im eigenen Körper der Person
geschehen würde. Verkörperung, oder Embodiment, wird als eine grundlegende Basis für das
mitfühlende, interaktive, handelnde, beteiligte Leben betrachtet. Das enaktive Erleben enthüllt
direkt und indirekt, wie Geist, Körper und Umfeld in einem dynamischen, co-emergenten Prozess
miteinander verbunden sind. Hier bringen Wahrnehmung, Kognition und Aktion oder Beteiligtsein
das subjektive Erleben der eigenen Einbettung in die Welt hervor.
Inangriffnahme von und Reaktion auf Leid
Ebenfalls verbunden mit der E/E-Achse ist die dispositionale Bereitschaft des Körpers zum
Handeln im Umfeld. Hier sind das eigene körperliche Sein und das Umfeld Kontexte füreinander
und interaktive Grundlage für die Erzeugung von Mitgefühl. Mitgefühl in Aktion ist
beziehungsrelevant, wechselseitig und asymmetrisch. Diese Achse begründet die Intersubjektivität
in körperlicher Aktion und Interaktion. Auf der Basis des verkörperten Geistes erfolgt das
Beteiligtsein in der Welt. Bei Mitgefühl befindet sich der Geist in einem Zustand der Bereitschaft,
der Welt in Reaktion auf Leid zu begegnen. Ohne eine Aktivierung des Geistes durch die Welt
würde Mitgefühl als nicht-linearer, interdependenter, adaptiver und sinnstiftender Prozess nicht
entstehen können. Eine der geistigen Qualitäten, die sich zeigt, wenn alle Achsen aktiviert werden,
ist Gleichmut. Gleichmut charakterisiert einen ruhigen, gleichmäßigen, ausgewogenen
Seelenzustand, der auch dadurch unterstützt wird, dass man sich der Wahrheit der Impermanenz
bewusst wird und alle Dinge unterschiedslos betrachtet. Diese geistige Fähigkeit wird von
Eudämonie begleitet, also dem menschlichen Aufblühen oder Glück – eine weitere potenzielle
Folge von Mitgefühl. Für die Griechen bedeutet Eudämonie das höchste menschliche Gut und das
Ausüben von Güte und Tugendhaftigkeit – das, was die Buddhisten als „grundlegende Gutheit“
bezeichnen. Eine dritte Wertigkeit ist die „Ethik“ oder moralische Tugend, die auch in einem
grundsätzlichen Mitgefühl präsent ist und das Ergebnis von Intention und Einsicht in Aktion
repräsentiert. Ein grundsätzliches Mitgefühl ist ein Mitgefühl, das einem selbst und anderen nicht
schadet. Mitgefühl ist ein emergenter Prozess, der aus der Interaktion verschiedener voneinander
abhängiger attentionaler,affektiver, kognitiver sowie verkörperter und somatischer Prozesse
hervorgeht, die jeweils trainiert werden können. Ohne eine Aufmerksamkeits- und Affektbalance
gibt es kein Mitgefühl. Ohne prosoziale Intention und Einsicht, auch die Einsicht in die
Unterscheidung zwischen sich selbst und anderen, ist Mitgefühl nicht möglich. Und Mitgefühl ist ein
verkörperter und beteiligter Prozess, der zu einem direkten und transformativen Verhältnis zu Leid
führen kann und in der Welt umgesetzt wird. Da Mitgefühl offensichtlich eher ein sich entfaltender
Prozess als eine geistige Eigenschaft ist, unterscheidet sich die Implikation hinsichtlich einer
Trainierbarkeit von Mitgefühl für Ärzte erheblich von den oft vorausgesetzten Annahmen
derjenigen, die andere in Mitgefühl schulen wollen. Man kann den Raum für eine Entstehung von
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