Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 226

Im vorliegenden Modell und entsprechend anderer Sichtweisen (siehe auch
und
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wird Mitgefühl als ein emergenter Prozess betrachtet, der aus der Interaktion von Nicht-
Mitgefühlsprozessen hervorgeht. Das A.B.I.D.E.-Modell unterteilt sich somit in drei voneinander
abhängige Erfahrungsbereiche, die Mitgefühl vorbereiten: die A/A-Achse, die für die
Aufmerksamkeits- und Affektbalance sorgt; die I/I-Achse, die für den kognitiven Bereich steht und
mit der Kultivierung von Intention und Einsicht zusammenhängt, die unsere Urteilskraft
unterstützen; und die E/E-Achse oder Verkörperungs- und Handlungsprozesse, die beteiligte
Reaktionen auf die Existenz des Leids unterstützen und ein ethisches Fundament, Eudämonie und
Gleichmut fördern. Diese Achsen sind nicht-linear und co-emergent.
Die A/A-Achse und die Aufmerksamkeitsbalance
Die A/A-Achse umfasst das subjektive Erleben von Aufmerksamkeit und Affekt. Diese Bereiche
unterstützen das seelische Gleichgewicht. Der erste Teil der A/A-Achse ist die Aufmerksamkeit.
Aufmerksamkeit liefert die stabile Grundlage für Mitgefühl; sie wird von Affekt und Kontext
beeinflusst und ist gleichzeitig durch sie bedingt
William James, Psychologe des neunzehnten
Jahrhunderts, schrieb: „Everyone knows what attention is. It is the taking possession by the mind,
in clear and vivid form, of one out of what seem several simultaneously possible objects or trains of
thought. Focalization, concentration of consciousness are of its essence. It implies withdrawal from
some things in order to deal effectively with others”
Aufmerksamkeit richtet die geistigen Verarbeitungsressourcen auf ein bestimmtes Objekt.
Aufmerksamkeit kann fokussiert, selektiv, dauerhaft, wechselnd, zerstreut oder geteilt sein. Sie
kann auch umfassend sein. Dann ist der Bereich der Aufmerksamkeit einschließend, reflektiv und
nicht-bewertend.
Man kann sich Mitgefühl eigentlich nicht ohne eine Stabilität der Aufmerksamkeit vorstellen. Dabei
ist es egal, ob die Aufmerksamkeit fokussiert oder umfassend ist. Um Leid bei anderen oder sich
selbst zu erkennen, muss man eine Aufmerksamkeitsbalance kultiviert haben, bei der
Aufmerksamkeit zumindest fokussiert und dauerhaft oder umfassend und inklusiv ist. Die
Fähigkeit, die Art des Leidens und auch die eigenen Reaktionen auf Leid ungefiltert
wahrzunehmen, erfordert eine Aufmerksamkeitsbalance. Eine stabile Aufmerksamkeit ist
kontinuierlich, lebhaft und mühelos. Sie ist nicht-bewertend, nicht-reaktiv, reagiert nicht
einschränkend auf unerfreuliche Phänomene und klammert sich nicht an ein erwünschtes
Ergebnis. Aufmerksamkeit ermöglicht auch eine Erdung kognitiver Prozesse: Eine ausgewogene
Aufmerksamkeit erfordert kognitive Kontrolle, damit das Aufmerksamkeitsfeld nicht durch
Annahmen, Bewertungen und Reaktivität gestört wird.
Eine ausgewogene Aufmerksamkeit kann eine unmissverständliche Wahrnehmung der Wirklichkeit
und – im Falle des Mitgefühls – eine unvoreingenommene Wahrnehmung von Leid zugänglich
machen. Neue Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass Aufmerksamkeitstraining, zu dessen
Bestandteilen eine Komponente der Achtsamkeitstmeditation gehört, die Anfälligkeit für die
Auswirkungen emotional aufwühlender Ereignisse reduziert. Dies lässt vermuten, dass eine
ausgewogene Aufmerksamkeit die eigene Fähigkeit zur wertungsfreien Wahrnehmung der
Wirklichkeit, einschließlich der Wirklichkeit des Leids, verbessert
. In der Fürsorge für
Menschen, die unter schweren Krankheiten leiden, ist diese Fähigkeit eine wichtige Voraussetzung
für Mitgefühl. Das gilt auch dann, wenn es um mitgefühlsbasierte Aufmerksamkeit für Angehörige
und Kollegen geht, die unter den im Zusammenhang mit Leiden, Sterben und Tod auftretenden
Belastungen leiden.
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