Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 219

Mitgefühl im klinischen Umfeld verstehen und
kultivieren
Mitgefühl sollte die Grundlage jedes ärztlichen Wirkens sein
Dennoch mangelt es Klinikärzten in
der westlichen Medizin oft genug daran. Unter einer Kultur, die Heilung ohne Zuwendung anbietet,
leiden nicht nur Patienten, sondern auch Ärzte und Familienangehörige. Dieses Kapitel stellt drei
Perspektiven bezüglich Mitgefühl vor, die Ärzten in der Ausbildung in mitfühlender
Sterbebegleitung vermittelt werden können. Zunächst werden verschiedene Arten des Mitgefühls
beleuchtet, die für Ärzte und andere im klinischen Umfeld tätige Mitarbeiter relevant sind. Dabei
wird auch ein heuristisches Modell des Mitgefühls beschrieben, anhand dessen bestimmte
Fähigkeiten verdeutlicht werden, die Ärzte zur Förderung von Mitgefühl einsetzen können
Diese
drei Perspektiven sind die Eckpfeiler des am Upaya Institute entwickelten professionellen
Trainingsprogramms, mit dem bereits Hunderte von Ärzten in mitgefühlsbasierter Ethik,
Kommunikation und kontemplativen Interventionen geschult wurden
Mitgefühl wird oft mit Religion assoziiert. Mitgefühl gilt auch als eine der möglichen Ursachen von
belastendem Stress bei denen, die mitfühlend sind
Jüngste Forschungsergebnisse belegen
jedoch, dass Mitgefühl im Gegenteil eine Quelle von Ausdauer, Resilienz und Wohlbefinden sein
kann
Mitgefühl ist zudem ein Sozialisationsmerkmal, das für unser individuelles und kollektives
Wohlergehen von entscheidender Bedeutung ist
Die neurowissenschaftliche Forschung über Mitgefühl steckt noch in den Kinderschuhen. So
haben zum Beispiel kleine Gruppen Meditierender an neurowissenschaftlichen Studien
teilgenommen und damit eine Abbildung neuronaler „Substrate“ des Mitgefühls ermöglicht
.
Andere Forschungsprojekte haben sich mit der Untersuchung der Immunreaktion beschäftigt
.
Mitgefühl scheint eine wichtige mentale, psychophysische und soziale Eigenschaft unserer
menschlichen Erfahrung zu sein. In unserer Gesellschaft, einschließlich unserem
Gesundheitssystem, scheint es an Mitgefühl zu mangeln, weshalb die Forschungsaktivitäten zum
Mitgefühl in den letzten Jahren stärker aufeinander abgestimmt wurden
(weitere Angaben zu
wissenschaftlichen Projekten, die sich mit dem Mitgefühl beschäftigen, sind in den
bis
zu finden). Als jemand, der im Bereich von Mitgefühltrainings aktiv ist, war es mir ein Anliegen,
die Komponenten des Mitgefühls zu verstehen und auf dieser Grundlage eine einfache, Mitgefühl
fördernde Intervention zu entwickeln, die sich besonders für Ärzte eignet. Diese Intervention,
G.RA.C.E. genannt, wird heute von Ärzten, Pflegekräften, Sozialarbeitern, Psychologen und
Seelsorgern in unterschiedlichen Feldern der Patientenversorgung eingesetzt (siehe weitere
Informationen zu diesem Programm in
.
Im Frühjahr 2011 verbrachte ich mehrere Monate als Gastwissenschaftlerin an der Library of
Congress, der Forschungsbibliothek des US-Kongresses, um einen Fachartikel zu einem
heuristischen Modell des Mitgefühls zu verfassen
Ich hatte den Eindruck, dass Mitgefühl nicht
ausreichend genug untersucht war, um daraus angemessene Schulungsansätze für die
Sterbebegleitung zu entwickeln. Seit vielen Jahrzehnten beschäftige ich mich mit dem Thema
Mitgefühl, indem ich Literatur dazu untersuche, meine eigenen Erfahrungen als
Meditationspraktizierende analysiere, Unterweisungen zum Mitgefühl von buddhistischen
Eingeweihten erhalte, die grundlegenden Leiden in der Sterbebegleitung und im Strafvollzug
erlebe, die Ergebnisse neurowissenschaftlicher und sozialpsychologischer Forschung in den
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