Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 211

„Die Frage ist doch“, sagte Alice, „ob du den Worten einfach so viele verschiedene
Bedeutungen geben kannst.“
„Die Frage ist“, sagte Humpty Dumpty, „wer die Macht hat – und das ist alles.“
aus
Trough the Looking Glass
von Lewis Caroll
Leider werden Qualitäten wie Güte, Toleranz, Geduld, Großzügigkeit oder Mut – die ihrem Wesen
nach ethischer und sozio-emotionaler Natur sind – in den Arbeitsdefinitionen der zeitgenössischen
Psychologen zur Achtsamkeit oft ignoriert oder vernachlässigt. Eine sehr populäre Definition macht
Achtsamkeit tatsächlich an der Selbsteinschätzung von Menschen darüber fest, wie abwesend
oder sorglos unaufmerksam sie sich selbst im Alltag erleben
Menschen, die sich selbst als auf
sorglose Art unaufmerksam bezeichnen, wird eine geringe „Achtsamkeit“ bescheinigt, während
diejenigen, die sich im Alltag selbst nicht als unaufmerksam oder abwesend bezeichnen, eine hohe
Achtsamkeitsbewertung erhalten. Solche Definitionen von Achtsamkeit sind von einem Verständnis
der Achtsamkeit im Sinne der buddhistischen Psychologie, der achtsamkeitsbasierten
Interventionen und der damit zusammenhängenden Forschung meilenweit entfernt. Und so sorgen
solche und andere Achtsamkeitsdefinitionen nicht nur für eine Verwirrung, Verzerrung und
Umdefinition der Achtsamkeit, sondern gefährden auch die Einführung, den Fortschritt und die
Entwicklung von Achtsamkeitspraktiken in der westlichen Psychologie und Medizin
In der akademischen Psychologie mit ihrer Affinität für Statistiken werden solche Definitionen auch
dazu verwendet, Achtsamkeit auf der Grundlage von Selbstberichten der Befragten zu messen. So
können sich Befragte beispielsweise innerhalb von fünf bis zehn Minuten auf der Grundlage von
Fragebogen-Aussagen zur Selbstwahrnehmung von Unaufmerksamkeit selbst bewerten.
Basierend auf diesen kurzen Selbsteinschätzungen der Studienteilnehmer zur Achtsamkeit ziehen
Wissenschaftler dann ihre – ich würde sagen falschen – Schlüsse. Eine solche Selbsteinschätzung
der eigenen Achtsamkeit erfolgt 1) ohne wirkliche Belege dafür, dass die eigenen Wahrnehmungen
auch dem Verhalten entsprechen (und es gibt eine Menge Nachweise für Abweichungen zwischen
tatsächlichem Verhalten und Selbstwahrnehmung, wenn Befragte positive Merkmale, wie Mut oder
emotionale Selbstbeherrschung, in Bezug auf sich selbst beurteilen sollen; warum sollte es also
bei der Fähigkeit zur Aufmerksamkeit anders sein?) und 2) auf der Grundlage einer Definition von
Achtsamkeit, die bestenfalls entfernt etwas mit der ursprünglichen buddhistischen/MBI-Bedeutung
des Begriffs zu tun hat.
Die Annahme, Achtsamkeit könne durch Fragebögen gemessen werden, sorgt möglicherweise für
ein weiteres schwerwiegendes Problem: In den letzten drei Jahrzehnten hat man sich in der
Persönlichkeits- und der sozialpsychologischen Forschung zunehmend auf Fragebögen statt auf
direkte Verhaltensmessungen als legitime Maßstäbe für die psychische Gesundheit verlassen
Vor rund 50 Jahren basierten noch 80% der Persönlichkeits- und sozialpsychologischen
Forschung auf objektiven Verhaltensmessungen, während dies heute für weniger als 20% der
Studien zu gelten scheint. Die restlichen Studien stützen sich in erster Linie auf Methoden mit
Fragebögen, die relativ kostengünstig und schnell durchzuführen sind und mit denen sich
problemlos Daten erfassen lassen. Das hat zur Folge, dass in der Psychologie Phänomene wie
die „Achtsamkeit“ auf dem Wege von Fragebogenmethoden erforscht werden. Und in den
Forschungsstudien und wissenschaftlichen Foren werden die Befragten dann ausschließlich auf
der Grundlage ihrer Antworten auf beispielsweise 16 kurze Aussagen als „achtsamere“ und
„weniger achtsame“ Menschen bezeichnet. Dabei werden den Studienteilnehmern Fragen darüber
Die Wiederentdeckung der Achtsamkeit durch die westliche Psychologie
„Wenn ich ein Wort verwende”, erwiderte Humpty Dumpty ziemlich geringschätzig,
„dann bedeutet es genau, was ich es bedeuten lasse, und nichts anderes.“
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