Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 210

zur Entwicklung einer bestimmten Art von Aufmerksamkeit. Bei der Art von Achtsamkeit, die sich
aus der buddhistischen Psychologie und den achtsamkeitsbasierten Interventionen (Mindfulness-
based Interventions - MBIs) der MBSR ableitet, geht es nicht darum zu lernen, die Ereignisse wie
ein Heckenschütze ins Visier zu nehmen und zu beobachten. Und es geht auch nicht darum,
unsere Aufmerksamkeit für den Alltag, für ein kognitiv-psychologisches Experiment oder für die
Anforderungen eines Computerspiels zu optimieren. Achtsamkeit ist eine spezielle Art des
Gewahrseins, die nur geschehen kann, wenn wir uns allem, was wir wahrnehmen, unbelastet und
unbeeinträchtigt durch unsere Emotionen und Intentionen zuwenden und dabei weder unsere
Aufmerksamkeit vom Objekt des Gewahrseins abwenden, noch daran hängen oder es
kontrollieren wollen
Und für diese spezielle Art des direkten Kontaktes mit unserem Erleben
sind die schon genannten grundlegenden Geisteshaltungen der Güte, der Offenheit, der Toleranz,
der Geduld und des Mutes von wesentlicher Bedeutung.
Achtsamkeit im Sinne der buddhistischen Psychologie und der MBI bietet uns also einen
einzigartigen Ansatz für den Umgang mit unserem schwer zu bändigenden Geist in einem schwer
zu bändigenden Körper in einer grundlegend unbeherrschbaren Welt, die sich in einem
unbeherrschbaren Universum befindet. Das Achtsamkeitskonzept ist eine Methode, die unseren oft
unbändigen Geist und Körper darin schult, Ruhe zu finden und in innigster Weise offen für
Erfahrung zu werden. Und weil unsere Gedanken oft zu unangenehmen Orten, etwa Bedauern,
Neid oder Angst, wandern – und unsere Körper diesem Impuls oft gleich folgen und sich
anspannen, überreizt werden oder mit Lethargie, Erschöpfung oder Schmerzen reagieren –
können wir diese spezielle Art der „achtsamen“ Erfahrung nur machen, wenn wir bei dem Versuch,
unsere Gedanken zu besänftigen und einen engen, unmittelbaren Kontakt zu allem aufzunehmen,
was wir von Moment zu Moment spüren, ein gewisses Maß an Geduld, Güte und Mut entwickeln.
Wir bringen unserem Geist also nicht nur bei, sich zu konzentrieren und den Kontakt mit dem
aufrechtzuerhalten, was im gegenwärtigen Augenblick geschieht. Wir schulen unseren Geist und
unseren Körper auch, die Qualitäten der Güte, der Geduld, der Großzügigkeit und des Vertrauen
auf einen Körper und einen Geist anzuwenden, die immer, oder doch zumindest teilweise,
außerhalb unserer Kontrolle sind: Unsere Gedanken wandern und werden ruhelos; unsere Körper
werden krank, sind agitiert oder fühlen sich unbehaglich. Durch die Einübung von Achtsamkeit
können wir ein wenig lernen, uns nicht nur in unseren Körpern und Gedanken zu Hause zu fühlen,
sondern darüber hinaus Körper und Geist auch zu schätzen und sogar lebhaft und intensiv zu
erfahren, obwohl sie aus der Perspektive einer gedachten Ordnung in der Tat oft unbeherrscht und
unbefriedigend erscheinen.
Durch die innere Erforschung und Entdeckung der Erfahrung von Achtsamkeit können wir also
neue Erkenntnisse darüber gewinnen, wie die Dinge – im Inneren wie im Äußeren – funktionieren.
Gleichzeitig werden negative Kritik und aversive Emotionen ersetzt durch Werte wie Güte,
Offenheit oder Toleranz für alles, was ist und was wir, aus welchem Grund auch immer, nicht
ändern können. Und all dies entsteht einfach dadurch, dass wir in einer besonderen Art und Weise
aufmerksam sind. Es ist die wiederholte Erfahrung unseres eigenen Erlebens innerhalb unseres
Körpers, die eine neue Art von Verständnis dafür hervorbringt, wie unser Geist und die Welt
funktionieren.
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