Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 215

zu einer Verstärkung, und nicht zu einer Linderung, von Leid führt und bei unmittelbarer
Bewusstwerdung einen aufrechterhaltenen Fokus stört.
Also müsste noch etwas anderes passieren, damit zumindest manchmal ein Moment-zu-Moment-
Gewahrsein selbst unangenehmer Wahrnehmungen, Emotionen oder Gedanken empfunden und
aufrechterhalten werden kann. Dieses „etwas anderes“ kann tatsächlich direkt mit der Kultivierung
von Güte, Toleranz, Mut und Offenheit gegenüber dem Objekt des Gewahrseins
zusammenhängen. Wie auch sonst könnte man dabei bleiben, unbefriedigende oder sogar
schmerzhafte oder bedrohliche Erfahrungen im Leben, beispielsweise unmittelbare
Wahrnehmungen und Emotionen in Verbindung mit ernsthafter Erkrankung oder Verlusten,
erforschen zu wollen? In dem hier vorgeschlagenen Modell kann der wahre Wert der MBI darin
bestehen, neue Perspektiven sowie Bedeutungs- und Wertesysteme hinsichtlich unterschiedlicher
Dimensionen des Lebens (wie zum Beispiel Einstellungen zu Stille, Reflexion, Güte und Mitgefühl
gegenüber sich selbst, anderen und sogar der unbelebten Welt) zu entwickeln, die direkt aus der
verkörperten Erfahrung einer gleichzeitigen, synergistischen Entwicklung attentionaler und
ethischer Qualitäten abgeleitet werden. Im buddhistischen Verständnis und im MBI-Verständnis
wird die Kultivierung des einen durch die Kultivierung des anderen synergistisch verstärkt: Die
intensivierte Güte gegenüber den unkontrollierbaren Launen des Lebens macht es möglich,
direkter mit dem unmittelbaren Erleben in Kontakt zu sein. Und die Kompetenz, dem
wahrnehmbaren Erleben mehr Beachtung zu schenken, stärkt wiederum unsere Fähigkeit zu Güte
und Geduld.
Eine solche Perspektivenverschiebung wird nicht über Nacht und auch nicht innerhalb von Wochen
und Monaten erreicht. Aber irgendwo muss man anfangen. Für viele Menschen scheint der
Prozess mit dem achtwöchigen MBI-Programm angestoßen zu werden, wie ein erheblicher
Forschungsmaterialbestand belegt.
Dass solche Programme über die Jahre kontinuierliche Pflege, Unterstützung und weitere
Vertiefung benötigen, entspricht dem Grundansatz der buddhistischen Psychologie, aus dem sie
stammen. Für viele westliche Psychotherapeuten jedoch, die oft in erster Linie die Anwendung
kurzfristiger Interventionen gelernt haben, bleibt dies grundsätzlich eine ziemlich befremdliche
Vorstellung. Im Sinne eines Paradigmenwechsels müssten Psychotherapeuten zur Kenntnis
nehmen, dass sie selbst viel Zeit benötigen werden, um persönliche Kompetenzen hinsichtlich der
eigenen Achtsamkeitspraxis zu entwickeln, bevor sie mit Klienten oder anderen Therapeuten in
Trainingsprogrammen arbeiten.
Der Widerstand gegen diese Vorstellung scheint noch erheblich zu sein. Werden aber solch
unterschiedliche Einstellungen zum Wert der Selbsterfahrung nicht anerkannt, könnte das
erhebliche Folgen für die Entwicklung von MBIs in westlichen Disziplinen haben. Es bleibt
abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Vielleicht hilft es uns, wenn wir diesen Prozess mit den
Werkzeugen der Güte, des Mitgefühls und des Gleichmuts begleiten – und in dem tiefen Wissen,
dass sich solche historischen Prozesse, mögen wir auch einen sanften Einfluss darauf nehmen,
ebenso wie andere Launen unseres Lebens größtenteils unserer Kontrolle entziehen.
Paradoxerweise, und ohne dies fatalistisch zu meinen, könnte eine solche Einstellung, – so
schwierig sie auch aufrechtzuerhalten ist – dazu beitragen, diesen Prozess und unsere Beziehung
dazu so gut wie möglich zu lenken.
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