Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 205

Erfahrung unseres Atmens verschleiern oder verdecken.
Und wenn Sie mögen, versuchen Sie noch eine Weile, im engen Kontakt mit jedem Moment
Ihres Atmens zu bleiben und wenden Sie dazu genau die Dosis von Geduld, Güte, Toleranz und
Großzügigkeit an, die Ihnen jetzt zur Verfügung steht - mit dem Ziel, Ihre Aufmerksamkeit auf
das zu richten, was während dieses Prozesses an die Oberfläche dringt. Versuchen Sie, gütig
und geduldig mit den abschweifenden Gedanken umzugehen, tolerant und offen zu sein
gegenüber Unbehagen, Langweile oder einem Entschwinden der ruhigen, entspannenden
Empfindungen. Und beobachten Sie, ob sich die Qualität Ihrer Aufmerksamkeit für Ihren Atem in
irgendeiner Weise verändert und Sie vielleicht für wenige Momente in der Lage sind, Ungeduld,
Selbstvorwürfe und Selbstkritik los zu lassen, die während dieses „einfachen“ Geist-Körper-
Experiments aufsteigen, bei dem Sie Ihre Empfindungen des Atems beobachten ... Vielleicht
erleben Sie einige wenige flüchtige Momente, in denen Ihre Fähigkeiten zur Konzentration,
Aufmerksamkeit und Erforschung einen Zustand der Leichtigkeit und Empfänglichkeit erreichen.
Vielleicht erleben Sie aber auch eine immer stärker werdende Ungeduld mit diesem kleinen
Experiment. Doch selbst im letzteren Fall ist es Ihnen vielleicht möglich, dieses Unbehagen für
einen Moment los zu lassen und gütig und neugierig zu erforschen, wie genau sich dieses
Unbehagen anfühlt? Aha! So fühlt sich Unbehagen also an – und so fühlen sich angenehme
Empfindungen an.
Und kehren Sie jetzt langsam und behutsam zu diesem Text als dem Ziel Ihrer Aufmerksamkeit
zurück.
Mögliche Erkenntnisse aus dem soeben Erfahrenen
Zweck dieses Experimentes war es, Ihnen eine kurze Begegnung mit einer speziellen Art des
Erlebens des gegenwärtigen Augenblicks zu ermöglichen – oder konkret: Ihrer Atmung
Aufmerksamkeit zu schenken. Vielleicht hat diese Übung auch verdeutlicht, dass der Akt dieser
speziellen Aufmerksamkeit weder leicht noch lediglich eine Frage der Konzentration auf ein
spezielles Objekt oder Phänomen ist. Wirklich aufmerksam sein bedeutet, sich selbst zur Ruhe
kommen zu lassen und nicht kontinuierlich durch Gedanken, Bilder, Erinnerungen oder Emotionen
ablenken zu lassen, die uns von dem abbringen, was wir eigentlich beachten wollen. Die Einübung
dieses Prozesses erfordert nicht nur die Schulung unseres Aufmerksamkeitsvermögens, sondern
auch unserer Fähigkeit zur Offenheit und Annahme dessen, was zu diesem Zeitpunkt bereits
geschehen ist und was wir deshalb nicht mehr ändern können. Dieser Prozess macht es
notwendig, immer wieder zum Objekt der Aufmerksamkeit zurückzukehren, sobald wir unser
gedankliches Abschweifen bemerkt haben. Und das bedeutet angesichts unseres ständig
wandernden Geistes – dessen wir uns vielleicht gerade bewusst geworden sind – auch, dass wir
lernen, uns in Geduld zu üben.
Doch das gilt nicht nur hinsichtlich der Aufmerksamkeit für den Atem. Der Atem als
Aufmerksamkeitsobjekt ist lediglich ein etwas simplifizierter Mikrokosmos für alle Aspekte der
wahrnehmbaren Erfahrung
Hin- und Hergerissenheit und Flüchtigkeit unserer Aufmerksamkeit
sind weit verbreitet und gelten nicht nur für die Wahrnehmung unserer Atmung, sondern betreffen
das Gewahrsein aller Aspekte unseres Lebens. Wenn uns die bewusste Wahrnehmung eines
einfachen Prozesses wie der Atmung schon so schwerfällt, können wir uns vielleicht vorstellen,
was dies hinsichtlich unserer Fähigkeit bedeutet, wesentlich komplexere Erfahrungen wie unsere
Arbeit, unsere Beziehungen oder unsere Umgebung bewusst und aufmerksam wahrzunehmen.
Im Sinne des oben skizzierten Ansatzes ist die Einübung von Geduld deshalb ein wesentlicher
Aspekt des Prozesses, bei dem wir lernen, allen Arten von wahrnehmbaren seelischen und
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