Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 209

persönlichen Erleben. Wir lernen eine neue Erfahrungs- und Wirklichkeitskonstruktion kennen, die
sich fast vollständig aus der gründlichen, subjektiven Erforschung dessen ableitet, was wir
wahrnehmen können.
Aus Mangel an einem besseren Wort bezeichnen wir diesen Prozess als Achtsamkeit ... und damit
beginnt die Verwirrung.
Dieser Ansatz leitet sich direkt aus der buddhistischen Psychologie und Meditationspraxis ab und
wird als Achtsamkeitspraxis bezeichnet. Ende der 1970er Jahre entwickelte, beschrieb und
implementierte Jon Kabat-Zinn ein geniales Programm der achtsamkeitsbasierten Intervention für
Patienten mit chronischen Krankheiten, das er als „Mindfulness-based Stress Reduction“ (MBSR,
achtsamkeitsbasierte Stressreduktion) bezeichnete
Damit läutete er den Einzug dieser
introspektiven Psychologie in die westliche Welt ein. Allerdings hatten bereits lange vorher viele
Lehrer von Einsichtsmeditationen und aus der Zen-Schule diesen Weg geebnet.
In den letzten zehn Jahren hat das Thema Achtsamkeit in Medizin und Psychologie
bemerkenswert an Beachtung gewonnen. Achtsamkeitspraktiken werden heute bereits bei fast
jedem vorstellbaren Problem und jeder denkbaren Krankheit eingesetzt – von der Rehabilitation
inhaftierter Täter über die Behandlung starker Depressionen bis hin zur Linderung von
Erkrankungen wie Krebs und Multipler Sklerose
Einige Forscher setzen ihre Hoffnung
darauf, dass sich Achtsamkeit direkt auf den Verlauf einzelner spezieller körperlicher Krankheiten
auswirkt. Andere gehen hingegen davon aus, dass das Achtsamkeitskonzept in erster Linie dabei
helfen kann, Menschen, die unter den existenziellen Folgen ernsthafter Erkrankungen oder
anderer entsetzlicher Launen des menschlichen Daseins leiden, neue Perspektiven aufzuzeigen
und ihrem scheinbar außer Kontrolle geratenen Leben eine neue Bedeutung zu geben. Die
schnelle Entwicklung von Technologien, die es uns inzwischen erlaubt, das Geschehen im Gehirn
in Echtzeit zu untersuchen, beschert uns zudem ein gewisses Maß an verifizierbarer und objektiver
wissenschaftlicher Bestätigung dafür, dass Achtsamkeit tatsächlich spezielle Auswirkungen auf die
Funktionsweise unseres Gehirns hat
Doch wie auch immer die potentiellen Vorteile und die physiologischen Mechanismen aussehen
mögen: Durch diesen neuen Impuls ist es für Ärzte und Psychologen legitim geworden, subjektive
Erfahrungen und Qualitäten wie Güte oder Mitgefühl zu erforschen und zu diskutieren. Für Ärzte,
Psychologen und Wissenschaftler bedeutet dies
allerdings auch
, dass sie versuchen müssen,
Achtsamkeit zu verstehen. Denn oft genug haben sie wenig oder gar keine praktische Erfahrung
damit und gehen davon aus, „Achtsamkeit“ sei genauso wie jedes andere Konzept zu verstehen
und zu behandeln, das ihnen in ihren Studien und ihrem beruflichen Umfeld begegnet: Ein
populäres, neuartiges Konzept, das man schnell verstanden zu haben glaubt und dann in einen
Forschungsplan integriert. Anschließend werden Hypothesen formuliert und mit einer Gruppe von
Studienteilnehmern getestet.
Das Interessante an der Achtsamkeit ist aber gerade, dass sie genauso nicht funktioniert. Erstens
ist Achtsamkeit keine Theorie, die mit einer Gruppe von Studienteilnehmern überprüft werden
muss, sondern ein systematischer Ansatz, Erfahrungen in einer sehr persönlichen, individuellen
Art und Weise zu erforschen. Die Praxis der Achtsamkeit untersucht zunächst einmal ohne große
theoretische Grundlagen, was geschieht. Dabei besteht der allererste Prozess aus dem
intentionalen, gründlichen Kontakt mit jeglicher wahrnehmbaren Erfahrung, derer man sich im
gegenwärtigen Augenblick bewusst sein kann. Danach versuchen sich Geist und Körper auf der
Grundlage dieser kumulativen, sehr persönlichen Erfahrung einen „Reim“ aus dem zu machen,
was beobachtet wurde. Und wie bereits ausgeführt wurde, ist die Achtsamkeitspraxis nicht eine
rein kognitiv-verhaltensorientierte Methode zur Einübung von Aufmerksamkeit, sondern ein Ansatz
209
1...,199,200,201,202,203,204,205,206,207,208 210,211,212,213,214,215,216,217,218,219,...557
Powered by FlippingBook