Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 204

des Ein- und Ausatmens so nah wie möglich kommen, wahrnehmen, wie er ganz natürlich
strömt, ohne dass wir in irgendeiner Weise versuchen, diesen Fluss zu „verbessern“.
Achten Sie also, so gut es geht, auf die Empfindungen an der gewählten Stelle, zu jedem
Augenblick in dem der Atem sich verändert: während der Zeit des Einatmens, während des
Übergangs vom Ein- zum Ausatmen und während des Wechsels vom Ausatmen zum Einatmen.
Und setzen Sie diesen Beobachtungsprozess von Atemzug zu Atemzug immer weiter fort und
beobachten Sie, wie es sich anfühlt …
Sind Sie immer noch bei mir oder sind Ihre Gedanken inzwischen abgeschweift und hat sich Ihre
Aufmerksamkeit auf etwas anderes verlagert? Kein Problem. Wenn Ihnen das passiert ist und
Sie dennoch bei dieser kleinen Übung dabei bleiben wollen, achten Sie nur kurz darauf, was Sie
gerade abgelenkt hat und kehren Sie dann zur Wahrnehmung Ihres Atems zurück. Wenn es
Ihnen genauso wie fast jedem anderen Menschen geht, dann haben Sie vielleicht schon
festgestellt, dass sich Ihre Aufmerksamkeit schnell verlagert und es gar nicht lange dauert, bis
Sie mit Ihren Gedanken erneut an einem ganz anderen Ort landen, statt im engen Kontakt mit
dem lebensentscheidenden Prozess des Atmens zu sein. Diese Ablenkungen geschehen bereits
mitten im ersten Atemzug oder, wenn Sie sich sehr gut konzentrieren können, nach drei oder vier
Atemzügen – und schon ist Ihre Aufmerksamkeit ganz woanders gelandet.
Möglicherweise bemerken Sie eine gewisse Frustration, wenn Sie wiederholt versuchen, Ihre
Aufmerksamkeit bewusst auf den Atem zurück zu lenken … nur, um festzustellen, dass die
Gedanken schon weiter gewandert sind, bevor Sie den nächsten Atemzug abgeschlossen haben.
Vielleicht taucht auch der Gedanke auf „Wie miserabel ich das doch hier mache“ oder dass es
sich um eine blöde Übung handelt oder dass es doch gar keinen Sinn macht, den eigenen Atem
zu beobachten. „Es hat doch all die Jahre auch immer ohne meine Aufmerksamkeit gut
funktioniert.“ Oder Sie stellen fest, dass Sie den körperlichen Empfindungen des Atems durchaus
eine Weile lang folgen können, bemerken aber dabei, dass sich der Atem ziemlich unbehaglich
anfühlt – zu eng, zu kurz, zu unregelmäßig, zu sehr dies oder zu sehr das. Vielleicht gelingt es
Ihnen aber auch, Ihren Atem eine Zeitlang zu beobachten und ein tiefes Gefühl der Entspannung
sowie den Wunsch zu spüren, dieses Gefühl zu erhalten, weil es sich so gut anfühlt – bevor Ihre
Gedanken schließlich erneut plötzlich abschweifen oder sich das positive Gefühl auflöst und sich
in eine weniger angenehme Wahrnehmung, wie etwa Unbehagen, Überdruss oder Langeweile
verwandelt.
Und nun ertragen Sie bitte den Verfasser dieser Übung noch für ein paar weitere Minuten und
setzen diese Übung fort – so gut Sie können. Doch diesmal erlauben Sie sich (ebenfalls so gut
Sie können) auch unangenehme Ablenkungen, Gedanken und Gefühle einfach da sein zu lassen
– als natürliche Zustände von Geist und Körper, die eben zuweilen auftreten. Denn sie sind
sowieso vorhanden - unabhängig davon, ob wir sie mögen oder nicht. Was auch immer in
diesem Augenblick passiert: Bleiben Sie in jedem Moment mit Ihrer Aufmerksamkeit behutsam
bei Ihrem Atem, so gut Sie können, und führen Sie Ihre Gedanken zur Atmung zurück, sobald
Sie ihr Abschweifen bemerken. Und machen Sie sich in diesem Moment bewusst, dass alles,
was auch immer Sie fühlen, wahrnehmen oder denken, gut ist, so wie es ist. Sie können nichts
verändern, was bereits geschehen ist. Vielleicht ist dieser Moment gerade angenehmer oder
unangenehmer als der vorherige. Aber in diesem Augenblick sitzen wir hier mit dem, was ist. Wir
haben jetzt entweder die Möglichkeit, diesen Augenblick zu erforschen, von allen Seiten zu
betrachten und zu versuchen, die innere Substanz unserer Atemerfahrung zu durchdringen und
(soweit uns das in diesem Moment möglich ist) offen, geduldig und tolerant damit umgehen.
Oder wir können uns von dieser Erfahrung abwenden und in andere Wahrnehmungen, Bilder
oder Gedanken der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft flüchten, die die unmittelbare
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