Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 208

körperlichen Phänomenen Aufmerksamkeit zu schenken. Und darüber hinaus gilt es zu lernen,
freundlich mit den kritischen Stimmen und dem unvermeidbaren Unbehagen umzugehen, die so
häufig wahrzunehmen sind, wenn wir dem gegenwärtigen Augenblick Aufmerksamkeit schenken.
Ansonsten werden wir uns ständig in den üblichen Vorwürfen und Bewertungen verlieren und uns
selbst aus der intimen Qualität des Kontaktes verabschieden, die diesen noch nicht benannten
Prozess der Erforschung auszeichnet. Denn solche Gedanken lenken uns von der Beobachtung
dessen ab, was im gegenwärtigen Moment tatsächlich geschieht. Und weil der direkte, unzensierte
Kontakt mit dem Wahrnehmungsfeld des Erlebens des gegenwärtigen Augenblicks oft schwierige
Gedanken, Bilder oder Gefühle hervorbringt, denen wir uns normalerweise nicht gerne aussetzen,
gehört oft auch die Einübung von Mut zu diesem Prozess. Denn meistens erfordert es einfach
ungeheuren Mut, den Schmerz und die Schattenseiten unseres Lebens zu erforschen, die
beispielsweise spürbar werden, wenn wir die Fackel des Bewusstseins auf körperliche Krankheit,
gierige Gedanken oder feindliche, unfreundliche Impulse, Empfindungen und andere negative
Emotionen richten.
Annäherung an eine verkörperte Ethik der Aufmerksamkeit, Erfahrung und Erkenntnis
Der Prozess (bzw. die Übung), die ich gerade beschrieben habe, leitet sich von einer Sichtweise
der Existenz und einer Psychologie ab, die sich sehr stark von den üblichen Betrachtungsweisen
der westlichen Welt unterscheiden, wo die kognitiven Prozesse von Aufmerksamkeit, Ausrichtung
und Bewusstheit traditionell selten mit sozio-emotionalen Qualitäten wie Güte, Großzügigkeit,
Mitgefühl, Mut oder Geduld verbunden wurden. Solche Verhaltenstendenzen oder -qualitäten
wurden in der westlichen Psychologie nur selten ernsthaft diskutiert oder untersucht (und vor
langer Zeit an die Religion oder, was vielleicht noch schlimmer ist, an die Sentimentalität delegiert).
Wir sind gut in der Kritik und Analyse des Wohls und Wehes von niederen Emotionen wie Furcht,
Angst und Depression, während uns die Beschäftigung mit Güte und Mitgefühl als legitime
Themen oft als zu seicht erscheint (man könnte sich durchaus fragen, warum das so ist).
Im Hinblick auf eine allgemeine Weltsicht können Qualitäten wie Güte, Toleranz und Mitgefühl
tatsächlich als Grundlagen einer Ethik betrachtet werden, die den wesentlich beliebteren,
vorherrschenden Konzepten moralischer Werte entgegensteht. Dies betrifft beispielsweise
moralische Werte auf der Grundlage religiöser Gebote oder gesellschaftlich verwurzelter
Vorstellungen wie dem Utilitarismus (einem Verhalten, das auf den größten Nutzen für möglichst
viele Menschen abzielt) oder dem ethischen Egoismus eines Ayn Rand (der vorschlägt, Menschen
sollten ihr Selbstinteresse maximieren). Dabei geht es um eine Ethik, die sich stärker auf
unmittelbares Handeln und dessen Folgen gründet statt auf die ausgefeilten, großartigen Ziele
anderer ethischer Ausrichtungen. Ethische Verhaltensweisen wie Güte, Mitgefühl und
Großzügigkeit sollen also niedrigere Emotionen verdrängen, die sich in Systemen entwickeln
können, die Wertdichotomien, wie etwa Erfolg versus Versagen, Lob versus Tadel, Ruhm versus
Unehre und Freude versus Leid aufgreifen.
Der von mir beschriebene Prozess kombiniert nahtlos das Kognitive, das Soziale und das
Emotionale in einer Weise mit ethischen Werten, die – zumindest auf den ersten Blick – für
unseren üblichen Blick auf die Dinge ziemlich fremd erscheint: Das Kognitive, das Sozio-
Emotionale und das Ethische werden in einem im wahrsten Sinne des Wortes verkörperten Akt
gemeinsam – und sich gegenseitig verstärkend – eingeübt, in dem wir unsere geistige, körperliche,
emotionale und intentionale Aufmerksamkeit dem schenken, was von Moment zu Moment im
möglichen Wahrnehmungsfeld unseres Körpers auftritt
Und indem wir unsere
Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeiten verbessern, stärken wir gleichzeitig unser
Vermögen zu Mut, Güte und Geduld. Unsere Körper und Gedanken selbst lehren uns diese Dinge
ohne Predigten, Vorlesungen oder andere Interventionen: All das geschieht in unserem eigenen
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