Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 214

gestellt, wie schlecht ihre Aufmerksamkeit nach ihrer eigenen Einschätzung im Alltag ist
(beispielsweise, ob sie immer genau wissen, wo sie gerade sind, wenn sie mit dem Auto
unterwegs sind, oder ob sie Namen von Menschen nach dem ersten Kennenlernen vergessen)
In den Berichten der Boulevard-Presse oder anderer Medien über diese Studien werden solche
Charakterisierungen von Achtsamkeit dann später zur allgemeinen Definition des Wortes.
In einer Welt, in der Fragebogendaten oft blind als Aussagen über tatsächliche Fakten und nicht
als reine Selbstwahrnehmung wahrgenommen werden, schaffen solche Messungen ihre eigene
Wirklichkeit. Dies könnte dramatische Abweichungen des Verständnisses von Achtsamkeit und
ihren umfassenderen Implikationen von den ursprünglichen buddhistischen und MBI-geprägten
Konnotationen zur Folge haben. Und wahrscheinlich hat es das sogar bereits gehabt.
Darüber hinaus vernachlässigen solche Definitionen von Achtsamkeit – die die
Aufmerksamkeitsaspekte betonen und intentionale Qualitäten, die eine ethische Haltung zum
Ausdruck bringen, außen vor lassen – die entscheidenden Dimensionen der buddhistischen
Psychologie, die der westlichen Psychologie etwas Einzigartiges und Revolutionäres zu bieten
hätten. Faktoren, die unsere Aufmerksamkeit und Konzentration verbessern können, sind seit
mindestens einem Jahrhundert wichtiger Bestandteil der wissenschaftlichen Theorie und
Forschung der westlichen Psychologie. Radikal neu dagegen ist für das westliche Denken die
untrennbare Verknüpfung von Ethik und Aufmerksamkeit, bei der Qualität und Art unserer
Aufmerksamkeit mit unseren Intentionen und Einstellungen gegenüber uns selbst und anderen
verknüpft werden. Sollten solche westliche Sichtweisen auf Achtsamkeit als bloße Form der
Aufmerksamkeit um sich greifen, wird die experimentelle Forschung zur Achtsamkeitspsychologie
hauptsächlich diese Richtung nehmen. Und die radikalen Implikationen einer Verbindung zwischen
dem Kognitiven und dem Ethischen könnten dann verloren gehen.
Der große Achtsamkeitsenthusiasmus in der westlichen Psychologie und Medizin wird heute von
einer relativ großen Anzahl wissenschaftlicher Studien angefacht. Dabei geht aus vielen
Untersuchungen hervor, dass mit MBIs ein breites Spektrum von Leiden, wie etwa chronische
Schmerzen, Multiple Sklerose, Krebs oder Depressionen (um nur einige zu nennen) effektiv
gelindert werden kann. Wie genau dies erreicht wird, ist bisher noch nicht wissenschaftlich
nachgewiesen. Mit anderen Worten: Wir können also nicht sicher sein, was genau am
Achtsamkeitsprogramm für diese Erfolge verantwortlich ist. Ist es die spezielle Beziehung
zwischen Teilnehmer und MBSR-Instruktor oder die spezielle Art des durch das Programm
initiierten Austausches der Teilnehmer untereinander? Oder ist es die eigentliche Handlung des
bloßen Sitzens in Stille und die Reflektion über die unmittelbare Erfahrung? Oder sind es die
gelegentlich entstehenden impliziten Qualitäten von Güte, die sowohl Körper als auch Geist zu
mögen scheinen? Oder sind es vielleicht ganz andere Faktoren? Tatsächlich werden wir
angesichts der Begrenztheit der derzeitigen Forschungsmethoden wohl für längere Zeit auf eine
sichere Antwort verzichten müssen, wenn sich diese Frage überhaupt jemals beantworten lässt.
Zwei Dinge dürften jedoch feststehen: 1) Die Einübung einer Achtsamkeitsmeditation über acht
Wochen wird auch bei regelmäßiger täglicher Praxis keine hochkompetenten Meditierer
hervorbringen, die im Alltag oder auch nur während der Durchführung der Achtsamkeitsübungen
ein konsistentes Moment-zu-Moment-Gewahrsein ihres Erlebens aufrechterhalten können.
Interessanterweise zeigen wissenschaftliche Studien sogar, dass keine oder nur eine sehr geringe
Beziehung zwischen dem Umfang des zunehmenden Wohlbefindens von Teilnehmern des
Programms und der für die Achtsamkeitsübungen aufgewandten Zeit besteht
2) Eine
moderate Verbesserung des Moment-zu-Moment-Gewahrseins des Erlebens dessen, was man
fühlt und wahrnimmt, erklärt nicht wirklich, warum die Teilnehmer sich damit besser fühlen sollten.
Tatsächlich könnte man annehmen, dass eine stärkere Wahrnehmung von Krankheitssymptomen
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