Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 227

Die A/A-Achse und die Affektbalance
 Der zweite Bereich in der A/A-Achse ist der emotionale oder affektive Bereich. Für Klinikärzte sind
Güte und Gleichmut wichtige affektive Prozesse in Verbindung mit Mitgefühl. Dabei zeichnet sich
Güte durch eine dispositionale Zuneigung anderen Menschen gegenüber in Kombination mit
echter Anteilnahme aus, während Gleichmut ein Prozess der Stabilität oder des seelischen
Gleichgewichts ist, der sich durch geistige Haltung und eine Annahme des gegenwärtigen
Augenblicks auszeichnet. Diese beiden Qualitäten sind für Klinikärzte, die sich um Sterbende
kümmern, unerlässlich. So unterstützt Gleichmut auch Empathie, eine weitere affektive
Eigenschaft, die oft mit der Aktivierung von Mitgefühl zusammenhängt. Empathie bedeutet die
affektive Einstimmung aufeinander. Diese affektive Einstimmung, die oft mit Mitgefühl verbunden
ist, kann Güte auslösen oder auch nicht. Das hängt von der psychischen Verfassung des
Erlebenden oder seiner Kompetenz ab, sein Erregungsniveau zu regulieren und Gleichmut
aufrecht zu erhalten
Im letzteren Fall sind jedoch Emotionsregulation und Aufmerksamkeits-
und Affektbalance ausschlaggebend. Wenn diese Bedingungen erreicht werden, kann Mitgefühl
entstehen. Neuere Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass Affektbalance, Mitgefühl und
andere prosoziale Emotionen die Aufmerksamkeitsgrundlage stabilisieren und erweitern können.
Dadurch verbessert sich der Umgang mit kognitiven Ressourcen und das Vermögen, klarere
Einsichten zu entwickeln und bessere Entscheidungen zu treffen. Negative Emotionen, wie Wut
und Angst, scheinen die Aufmerksamkeitsbasis zu verringern und die Wahrnehmung einzufärben,
was die Urteilskraft beeinträchtigt
. Zusätzlich zu Güte und Gleichmut können Altruismus,
Empathie, Mitfreude, Dankbarkeit und viele weitere mentale Prozesse gefördert werden, die mit
positiver Psychologie und Prosozialität assoziiert werden. Wie die Aufmerksamkeit scheint es sich
hierbei um trainierbare geistige Prozesse zu handeln. Diese prosozialen Prozesse können größere
oder kleinere Merkmale sein, die mit dem Auftreten von Mitgefühl verbunden sind. Doch welche
affektiven Eigenschaften auch immer beteiligt sein mögen: Eine Balance und eine Regulation
dieser Fähigkeiten ist entscheidend dafür, dass sich Mitgefühl entwickeln kann. Es steht außer
Frage, dass das affektive Gleichgewicht in Kombination mit der Aufmerksamkeitsbalance oder
dem Gleichmut für das Wohlergehen und die Resilienz des Klinikarztes entscheidend ist. In der
Sterbebegleitung geht es überwiegend um tiefe Emotionen und existenzielle Fragen. Eine vom
Klinikarzt kultivierte Stabilisierung und Regulation des geistigen Kontinuums angesichts des
Sterbens hat sowohl für ihn selbst als auch für den Patienten sehr günstige Auswirkungen
I/I-Achse und prosoziale ethische Intention und Einsicht
 Man kann sich die Frage stellen: Wie können wir emotionale Reaktionen wie Empathie so
regulieren, dass Mitgefühl wachsen kann und wir nicht in Vermeidungs-, Aufgabe-,
Erstarrungsreaktionen oder moralische Entrüstung verfallen – was im klinischen Umfeld, wo
Sterbende versorgt werden, nicht ungewöhnlich ist? Zu den wichtigsten Interventionen zählen
eindeutig eine ausgewogene Aufmerksamkeit und ein ausgeglichener Affekt (A/A-Achse) sowie die
Fähigkeit, die Gedanken in Übereinstimmung mit den eigenen Intentionen zu lenken und das
geistige Kontinuum so zu stabilisieren, dass Einsichten über Leid, seine Entstehung und die
Möglichkeit einer Transformation von Leid gewonnen werden können. Diese Dimensionen sind
charakteristisch für die I/I-Achse (die kognitive Dimension), die Intention und Einsicht umfasst.
Sowohl Intention als auch Einsicht müssen in Verbindung mit der Aufmerksamkeits- und
Emotionsbalance (A/A-Achse) wirken. Diese verstärken die eigene Fähigkeit, Zugang zum
attentionalen, affektiven und kognitiven Kontinuum zu erhalten, sich dessen bewusst zu sein und
eine Kontrollmöglichkeit darüber zu haben. Intention und Einsicht können ebenfalls die
Aufmerksamkeits- und Affektbalance unterstützen. Aus der Sicht dieses Modells können die
attentionalen, affektiven, kognitiven und somatischen Bereiche nicht voneinander isoliert betrachtet
oder vom sozialen, kulturellen und umgebungsbedingten Umfeld der Einzelperson dissoziiert
werden.
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