Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 249

Cortisol, tiefgreifende Effekte auf die Funktion unseres zentralen Nervensystems haben. Diese Hormone
wirken sich auch enorm auf unser Immunsystem aus – und zwar in Form komplexer Prozesse (siehe erneut
, die wahrscheinlich von direkter Relevanz für unsere Gesundheit sind und möglicherweise eine
kürzlich gemachte kuriose Entdeckung erklären können, die eine direkte Verbindung zwischen Empathie und
dem Ausgang infektiöser Erkrankungen herstellt. In einer großen stichprobenartigen Studie erholten sich
Patienten, die ihre Ärzte während eines Krankenhausaufenthalts als empathischer empfunden hatten,
schneller von ihrer Erkältung und zeigten weniger schwerwiegende Symptome als Patienten, die ihre Ärzte als
weniger empathisch empfunden hatten
. Interessanterweise war der Gehalt des bedeutenden
Immunstoffes Interleukin (IL)-8 in den Nasenspülwasserproben bei jenen Patienten höher, die ihre Ärzte als
empathischer erlebten. Das lässt vermuten, dass sich das Erfahren von Empathie auf die Funktionsweise des
Immunsystems gesundheitsfördernd auswirkt. Diese Ergebnisse bestätigen und ergänzen frühere Befunde,
nach denen Menschen mit starker sozialer Unterstützung weniger wahrscheinlich eine Erkältung entwickeln,
wenn sie in einem Experiment per Nasenspray Viren ausgesetzt werden
Neben einer potentiellen Optimierung der Immunfunktion bei Konfrontation mit Pathogenen wirken sich auch
zahlreiche soziale/emotionale Faktoren, die mit dem Mitgefühl in Beziehung stehen, nachweislich auf das
Immunsystem aus, was Folgen für die geistige und körperliche Gesundheit hat. Um diese Ergebnisse
verstehen zu können, muss man wissen, dass das Immunsystem von Säugetieren aus zwei umfassenden,
interagierenden Teilsystemen besteht: einer schnell reagierenden und unspezifischen Abwehr, die oft als
angeborene Immunität
bezeichnet wird und durch Entzündung charakterisiert ist, und einem langsam
agierendes und spezifisches System, das oft als
erworbene Immunität
bezeichnet wird und sich durch T-
Zellen-Aktivität und die Produktion von Antikörpern auszeichnet, welche die Pathogene aus dem Körper
entfernen. Es gibt überwältigende Belege dafür, dass viele Aspekte der modernen Welt selbst in Abwesenheit
akuter Infektionen zur Zunahme chronischer Entzündungen beitragen
. Diese Zunahme von chronischen
Entzündungen wurde wiederum mit der Entwicklung einer Reihe von psychiatrischen Erkrankungen assoziiert,
einschließlich starken Depressionen, bipolaren Störungen und Schizophrenie sowie vielen körperlichen
Leiden, einschließlich Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Krebs und Demenz. Es ist wichtig,
festzuhalten, dass sowohl akute als auch chronische psychosoziale Belastungen nachweislich die Zunahme
von chronischen Entzündungen fördern, wobei diese Effekte bei Menschen mit frühkindlichen Belastungen
(etwa Traumatisierung oder Vernachlässigung) stärker als bei anderen auftreten
,
. Zusammen
genommen, sind diese Ergebnisse ein Hinweis darauf, dass die Entzündungsaktivierung einer der Wege sein
könnte, auf denen soziale Belastungen Depressionen fördern. Diese Ergebnisse könnten auch dazu
beitragen, die wiederholte Beobachtung zu erklären, dass früher erlebte Depressionen später die Entwicklung
vieler moderner Krankheiten begünstigen, bei denen bekanntermaßen Entzündungen eine Rolle spielen
In diesem Zusammenhang sind die jüngsten Erkenntnisse über die Effekte von Mitgefühlsmeditationen auf
Entzündungsreaktionen in Folge eines psychosozialen Stressors (TSST) von besonderer Relevanz. In
derselben, oben beschriebenen Erstsemester-Studentenpopulation stellten wir fest, dass – genau wie beim
Cortisol – in der Mitgefühlsgruppe die Häufigkeit des Meditierens während der Studie stark mit
Entzündungsreaktionen auf den TSST verknüpft war – obwohl keine Unterschiede in der Mitgefühlsgruppe an
sich festgestellt wurden
Es zeigten insbesondere die Studenten, die zuhause erhebliche Zeit für
Meditationsübungen aufwandten, über den Testzeitraum eine verringerte Produktion von Zytokin IL-6, eines
wichtigen Entzündungsstoffs im Blut (siehe erneut
. Zudem korrelierte eine längere
Übungszeitspanne mit reduzierten IL-6-Stressreaktionen. Zumindest in dieser Probandengruppe schienen
Veränderungen in der Cortisolreaktion auf den TSST nicht mit Meditationseffekten auf stressinduzierte
Entzündungen im Zusammenhang zu stehen. Andererseits wurde zwischen einer verlängerten Übungszeit
und reduzierten Reaktionen des autonomen Nervensystems auf den TSST eine Verbindung festgestellt, und
aus der autonomen Funktion während des TSST ließen sich wiederum die IL-6-Werte nach dem Stressor
prognostizieren (unveröffentlichte Daten). Wichtig war auch die Beobachtung, dass vor Beginn der
Mitgefühlstrainings gemessene Cortisol-Werte und Immunreaktionen auf Stress keine Prognose über den
Zeitumfang zuließen, in dem sich die Probanden auf die Übungen des Meditationsprogramms einlassen
würden
. Eine Gesamtbetrachtung dieser Ergebnisse lässt vermuten, dass die Praxis der
Mitgefühlsmeditation das wahrgenommene Stressausmaß der mit dem TSST konfrontierten Probanden, wie
ihre verringerte autonome Reaktivität nahe legt, reduziert hat und dies wiederum zu einer Verringerung von
Entzündungen geführt hat. Dies stimmt mit vielen anderen Befunden überein, die darauf hindeuten, dass
autonome Reaktionen auf Stress eine entscheidende Rolle bei der Regulierung von Entzündungsreaktionen
spielen
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