Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 439

begrenzt und erstreckt sich nur auf uns nahestehende Menschen. Als Menschen sind wir aber
fähig, unser Mitgefühl auf wesentlich größere Gruppen auszudehnen. Diese zweite Ebene des
Mitgefühls ist Mitgefühl als bewusst trainierbare Kompetenz. Es kann nur entstehen, wenn ein
Gefühl der Zuneigung für andere besteht. Wenn dieses Gefühl der Zuneigung für größere Teile der
Menschheit kultiviert werden kann, gilt das auch für Mitgefühl.
Es zählt zu den Grundbedingungen unserer menschlichen Existenz, dass wir in Abhängigkeit
voneinander existieren (siehe
. Alles, was wir für unser Überleben brauchen, stammt aus
den Bemühungen zahlreicher anderer Menschen, die wir fast alle nicht persönlich kennen. Wenn
wir uns diese oft vergessene Tatsache bewusst machen, können wir Zuneigung und Dankbarkeit
gegenüber anderen empfinden. Diese Erkenntnis sollte durch Übung und Praxis vertieft werden,
weil sie sonst lediglich ein oberflächlicher Gedanke bleibt. Wird sie dagegen zutiefst realisiert,
verändern sich dadurch unsere Verhaltensweisen und Beziehungen zu anderen Menschen
nachhaltig.
Dieser Ansatz – dass eine Veränderung unserer Perspektive unser Verhalten verändert, sofern
sich dies über Übung und Praxis zutiefst eingeprägt – wird im Tibetischen als
lta-spyod-sgom-
gsum
(Lautsprache: „ta cho gom soom“) bezeichnet, was wörtlich bedeutet: „Sichtweise, Verhalten
und Meditation“. In den spirituellen Traditionen der Welt gilt ein über die eigenen Freunde und
Familienangehörigen hinausreichendes Mitgefühl als kultivierbar, aber nicht als leicht.
Scharfsinnige Denker der Wissenschaft, wie Albert Einstein oder Charles Darwin, sind zu
demselben Schluss gekommen. Darwin schrieb in
The Descent of Man:
As man advances in
civilization, and small tribes are united into larger communities, the simplest reason would tell each
individual that he ought to extend his social instincts and sympathies to all the members of the
same nation, though personally unknown to him. This point being once reached, there is only an
artificial barrier to prevent his sympathies extending to the men of all nations and races. If, indeed,
such men are separated from him by great differences in appearance or habits, experience
unfortunately shows us how long it is before we look at them as our fellow-creatures. Sympathy
beyond the confines of man, that is, humanity to the lower animals, seems to be one of the latest
moral acquisitions… This virtue, one of the noblest with which man is endowed, seems to arise
incidentally from our sympathies becoming more tender and more widely diffused, until they are
extended to all sentient beings. As soon as this virtue is honored and practiced by some few men,
it spreads through instruction and example to the young, and eventually through public opinion.
[6]
In diesem bemerkenswerten Text begreift Darwin Sympathie (der Begriff, den er für das benutzte,
was wir Mitgefühl nennen) als einen angeborenen Sozialinstinkt, der über Kultivierung und Kultur
auf alle fühlenden Lebewesen ausgeweitet werden kann. Noch bemerkenswerter ist seine
Überlegung, dass eine solche Ausweitung des Mitgefühls auch unseren Kinder beigebracht und
sich auf die gesamte Gesellschaft erstrecken könnte. Diese Sichtweise stimmt mit der Vision
Seiner Heiligkeit, des Dalai Lama, überein, der Mitgefühl über Erziehung und Forschung in der
gesamten Gesellschaft verbreiten möchte.
Etwas Ähnliches schrieb auch Einstein in einem privaten Brief: „
A human being is part of the whole
called by us universe, a part limited in time and space. We experience ourselves, our thoughts and
feelings, as something separate from the rest. A kind of optical delusion of consciousness. This
delusion is a kind of prison for us, restricting us to our personal desires and to affection for a few
persons nearest to us. Our task must be to free ourselves from the prison by widening our circle of
compassion to embrace all living creatures and the whole of nature in its beauty. The true value of
a human being is determined by the measure and the sense in which they have obtained liberation
from the self. We shall require a substantially new manner of thinking if humanity is to survive.
[7]
Und schließlich hat seine Heiligkeit der Dalai Lama in seinem Buch
Ethics for the New Millennium
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