Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 438

geführte Schritte zur Kultivierung von Zuneigung bereit. In den einzelnen Linien der tibetisch-
buddhistischen Tradition werden verschiedene Ansätze zur Kultivierung von Zuneigung
beschrieben. Jede dieser Linien liefert solide pädagogische und erfahrungsorientierte
Übungswerkzeuge. Dr. Negi hat das Material für das Protokoll aus den Linien so ausgewählt, dass
es sich für einen säkularen Forschungskontext eignet. Da einige Begründungsstränge für die
Entwicklung von Mitgefühl stark auf der buddhistischen Philosophiedoktrin der Reinkarnation
beruhen, wurden diese nicht berücksichtigt. Allerdings sollte die Verwendung des Begriffs „säkular“
nicht als Ausschluss oder Rückzug von Religion verstanden werden. Stattdessen verwenden wir
dieses Wort so, wie auch Seine Heiligkeit, der Dalai Lama, es pflegt, nämlich im Sinne eines
Respekts für alle religiösen Traditionen
Wir denken, dass CBCT die universellen Themen aller
großen Religionen und humanistischen Traditionen anspricht und trotzdem dem empirischen und
erfahrungsorientierten Geist des tibetischen Buddhismus treu bleibt.
In das hier beschriebene Protokoll sind Rückmeldungen von Teilnehmern und unsere Erfahrungen
aus der Unterrichtstätigkeit in den vergangenen sieben Jahren eingeflossen. Heute ist es die
Grundlage für unsere laufende Forschung sowie für mehrere klinische Interventionen, die von
unserem Team bei zahlreichen verschiedenen Zielgruppen in Atlanta implementiert werden. Für
CBCT-Lehrer steht ein komplettes CBCT-Handbuch mit einer Ausarbeitung zu den acht
Kernthemen sowie Beispielen für den Unterricht und geführten Meditationen zur Verfügung. Wir
wollen uns im Folgenden mit den Fragen beschäftigen, was Mitgefühl ist und warum wir Mitgefühl
brauchen, ob Mitgefühl trainiert werden kann und was mit „kognitiv orientierten“ oder „analytischen“
Meditationen gemeint ist. Dann wollen wir die wesentlichen Bestandteile in der Kultivierung von
Mitgefühl betrachten, die das CBCT-Gerüst bilden – die Kultivierung von Zuneigung und
Gleichmut, Selbstmitgefühl (siehe
sowie Einsicht und Achtsamkeit (siehe
).
Im letzten Abschnitt werden dann die acht Themen des CBCT-Kurses, die eine Ausarbeitung
dieser wesentlichen Bestandteile sind, in der Reihenfolge vorgestellt, in der sie unterrichtet
werden.
Was Mitgefühl ist und warum wir es brauchen
Auf grundlegendster Ebene ist Mitgefühl der Wunsch, das Leid anderer zu lindern. Mitgefühl ist ein
grundlegender humanitärer Wert, der für unser Überleben als Individuen und Gemeinschaften
erforderlich ist. Er wird von allen großen spirituellen Traditionen anerkannt und als das höchste
Ideal angesehen. Auch die moderne Wissenschaft erkennt zunehmend die Bedeutung des
Mitgefühls für unsere Gesundheit und das Gedeihen der Menschheit. Charles Darwin, der eher
(wenn auch nicht notwendigerweise korrekt) mit Vorstellungen wie vom „
survival of the fittest
“ in
Zusammenhang gebracht wird, beschrieb Sympathie tatsächlich einmal als den stärksten
menschlichen Instinkt, der entscheidend für unser Überleben und die Grundlage unserer Ethik ist.
In jüngerer Zeit hat der Psychologe und Primatologe Frans de Waal darauf verwiesen, dass die
Wurzeln des Mitgefühls weit in unsere Entwicklungsgeschichte zurückreichen (zumindest bis zum
letzten gemeinsamen Vorfahren von Vögeln und Säugetieren), und über zahlreiche Akte der
Freundlichkeit und des moralischen Handelns bei nicht-menschlichen Primaten berichtet
Wenn wir Liebe als den Wunsch für andere verstehen, glücklich zu sein, erkennen wir, dass
Mitgefühl und Liebe zwei Seiten derselben Medaille sind. Wenn wir uns anderen nahe fühlen,
wollen wir für sie Glück und Freiheit von Leid: Das ist Liebe und Mitgefühl.
Kann man Mitgefühl trainieren?
Das angeborene, biologisch begründete Mitgefühl, das wir mit den Säugetieren teilen, ist die
Grundlage für die Kultivierung des Mitgefühls. Wenn wir es aber nicht kultivieren, bleibt es
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