Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 435

Cognitively-Based Compassion-Training (CBCT):
Protokoll und Schlüsselkonzepte
Das Cognitively-Based Compassion Training (CBCT) begann 2005 als interdisziplinäres
Pilotprojekt, mit dem die psychischen und körperlichen Auswirkungen von Mitgefühlsmeditation bei
College-Studenten untersucht werden sollten. Die Idee dazu stammte von der Studentin Molly
Harrington von der Emory University, die um die seelische Gesundheit der Studenten und die
steigende Zahl von Selbstmorden unter ihnen besorgt war. Die Projektleitung übernahmen Dr.
Charles L. Raison für die wissenschaftliche Seite und Dr. Geshe Lobsang Tenzin Negi für den
kontemplativen Teil. Das CBCT-Protokoll – die Grundlage für dieses Forschungsprojekt – wurde
von Dr. Negi entwickelt, der dazu auf die tibetisch-buddhistischen Traditionen des
Lojong
(die
Geistesschulung) und des
Lamrim
(die Stationen des Pfades der spirituellen Entwicklung)
zurückgriff. Diese Anleihen wurden allerdings im Sinne einer säkularen Praxis und einer
allgemeinen Anwendung angepasst. Die Studie mit College-Studenten erstreckte sich über fünf
Semester und führte schließlich dazu, dass das NIH Fördermittel zur Verfügung stellte, um die
Auswirkungen von Mitgefühlstraining bei Erwachsenen zu untersuchen
Darüber hinaus
entstanden weitere CBCT-Forschungsprojekte mit Jugendlichen in Pflegeeinrichtungen
sowie
Grundschulkindern
(siehe auch
, Menschen nach einem Selbstmordversuch,
Traumatisierungsopfern und weiteren Zielgruppen. Aufgrund der Nachfrage nach CBCT-
Programmen, sowohl in der Forschung als auch im psychosozialen Bereich, wurde inzwischen
auch ein entsprechendes Ausbilderprogramm entwickelt.
CBCT wollte ein säkulares Meditationsprotokoll konzipieren, das die Stärken bestehender
Meditationsprogramme nutzt und darauf aufbauend einige zusätzliche Aspekte berücksichtigt. Die
meisten säkularen Meditationsprogramme sahen damals ihren Schwerpunkt nicht in der
analytischen Meditation und bezogen sich auch nicht auf die reiche
Lojong
-Tradition. Die
Mitgefühlsmeditationspraxis der
Lojong
-Tradition verlangt von den Meditierenden eine aktive
Auseinandersetzung mit ihren Gefühlen, damit sie ein tiefes Gefühl der Zuneigung für und eine
starke, positive Verbindung zu andere(n) Menschen entwickeln können. Dazu dienen nicht-
analytische und analytische (oder kognitiv orientierte) Meditationsstile. Die tibetisch-buddhistische
Tradition betrachtet die Mitgefühlspraxis als eine Methode, die unermessliche Vorteile für jeden
einzelnen Menschen und die Gesellschaft hat.
CBCT geht davon aus, dass alle Menschen über die angeborene Fähigkeit zum Mitgefühl
verfügen. Dies ist ein Ergebnis unseres entwicklungsgeschichtlichen Erbes als Säuger, die auf die
mütterliche Sorge angewiesen sind, um zu überleben (siehe auch
. Damit sich das
angeborene Mitgefühl tatsächlich zu einem aufrichtigen Altruismus entwickeln kann, braucht es
allerdings Übung. Die tibetische
Lojong
-Tradition, eine Art von „Geistesschulung“, versucht diesen
Transformationsprozess über kognitive, analytische Techniken zu initiieren, die, sofern sie
eingehend praktiziert werden, zu einer Neuausrichtung zwischenmenschlicher Beziehungen
befähigen. Ob über diesen Prozess eine Transformation der Beziehungen gelingt, hängt davon ab,
inwieweit man in der Lage ist, anderen in tiefer Zuneigung zu begegnen. Wir benutzen als
Übersetzung für das tibetische Wort „
yid-óng
“ den Begriff „Zuneigung“ (engl. affection), der die
Empfindung für einen Menschen ausdrückt, der geliebt wird und den Geist erfreut – wie ein
Säugling, der seine Eltern immens beglückt. Zuneigung ist der Katalysator, der unsere Empathie
aktiviert, die wiederum die Entwicklung von Mitgefühl initiiert. Die Entwicklung eines Gefühls der
Zuneigung ist deshalb entscheidend für den Prozess. Für diesen Übungsweg hält die Tradition
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