Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 442

geschrieben: „
My call for a spiritual revolution is thus not a call for a religious revolution. Nor is it a
reference to a way of life that is somehow otherworldly, still less to something magical or
mysterious. Rather it is a call for a radical reorientation away from habitual preoccupation with the
self. It is a call to turn toward the wider community of beings with whom we are connected, and for
conduct which recognizes others’ interests alongside our own.
[8]
Nach unserem heutigen Verständnis des Gehirns lassen sich dessen Strukturen und
Funktionsweisen über Erfahrung und Training verändern – ein Phänomen, das als Neuroplastizität
bezeichnet wird (siehe
und
. Wenn wir bereits eine biologische
Mitgefühlsgrundlage mitbringen, besteht aller Grund zu der Annahme, dass sich dieses Mitgefühl
durch Übung und Praxis ausweiten lässt, auch neurologisch. In der heutigen Welt können wir
sowohl aus den Einsichten der spirituellen Welttraditionen als auch aus den Ergebnissen
zeitgenössischer Wissenschaften schöpfen, um Mitgefühl zu verstehen und nachzuvollziehen, wie
es für unseren individuellen und kollektiven Nutzen erweitert werden kann. Fokus und Zweck des
kognitiven Mitgefühlstrainings ist es, die biologisch gegebene, begrenzte Mitgefühlsfähigkeit, die
uns bereits zur Verfügung steht, als Ausgangspunkt zu nehmen und sie durch bewusstes Training
zu erweitern. Wenn man von der heutigen Situation der Menschheit ausgeht, scheint die
Kultivierung eines vorurteilsfreien und universellen Mitgefühls für uns eher eine Unmöglichkeit zu
sein. Aber wir Menschen sind in der Lage, unsere Perspektiven auf die Dinge zu verändern – sei
es zunächst auch nur leicht. Und das bedeutet letztendlich, dass wir alle über die Fähigkeit
verfügen, unser Mitgefühl allmählich auszuweiten – sei es zunächst auch nur in kleinsten Schritten.
Die Relevanz des „kognitiven“ Trainings
Mindestens seit 2005 drängt Seine Heiligkeit, der Dalai Lama, dazu, analytische
Meditationsformen zu erforschen. Oft wird analytische Meditation als diskursive Meditation – das
bloße Nachdenken über etwas – missverstanden. Sie ist jedoch eher eine Methode zur
Entwicklung einer Einsicht in etwas, das untersucht wird. Sie beinhaltet Reflektion und genaue
Beobachtung des zu untersuchenden Objekts. Und genau wie der Forscher im Labor ein Objekt
durch genaueste Beobachtung untersucht, um es zu identifizieren und herauszufinden, welche
Eigenschaften es hat, analysiert der Meditierende während der analytischen Meditation ein Objekt.
Und ähnlich, wie ein Physiker die Natur der subatomaren Partikel über indirekte Evidenz,
beispielsweise die aus einem Partikelbeschleuniger gewonnenen Erfahrungen, verstehen lernt,
arbeitet auch der Meditierende während der analytischen Meditation mit indirekter Evidenz und
logischem Denken, um seine Gefühle, Emotionen, Motivationen, Beziehungen und Erfahrungen zu
erfassen. Wenn man eine bestimmte Situation aus einer bestimmten Perspektive – zum Beispiel
einer verzerrten Perspektive – betrachtet, bekommt man eine bestimmte Antwort. Betrachtet man
dieselbe Situation aus einer anderen Perspektive – einer, die eher mit der Realität übereinstimmt –
führt das zu einer vollkommen anderen Antwort. Auf diese Weise ist Einsicht wesentlich dafür,
dass wir uns in einer positiveren Weise auf Erfahrungen beziehen können. Davon profitieren wir
selbst und andere. Es verhindert zudem, immer wieder in dieselben Fehler zurückzufallen, die
dieselben Probleme verursachen.
Bei der analytischen Meditation geht es also um Einsichten oder um das, was man als „Aha-
Erlebnis“ bezeichnen könnte. Solche Einsichten allein reichen jedoch nicht. Sie müssen vertieft
werden. Dies kann auf zwei Wegen erfolgen: Dasselbe Thema wird aus weiteren Blickwinkeln
betrachtet oder man „sitzt“ (in der Meditation) mit der neu gewonnenen Einsicht, das heißt, man
konzentriert sich ablenkungslos auf die Einsicht, bis sie tief ins eigene Sein eingedrungen ist. Oder
anders formuliert: Man nutzt direkte und indirekte Evidenz, um eine Einsicht in ein bestimmtes
Thema, ein Ereignis oder eine Erfahrung zu kultivieren. Der Erfolg misst sich dann daran, ob dies
zu einem Aha-Erlebnis der Überzeugung führt. Und diese Überzeugung gilt es dann so tief
442
1...,432,433,434,435,436,437,438,439,440,441 443,444,445,446,447,448,449,450,451,452,...557
Powered by FlippingBook