Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 451

Dingen flüchten, die wir als unangenehm empfinden. Nach eingehender Analyse stellen wir dann
möglicherweise fest, dass die Dinge, denen wir blind hinterhergelaufen sind, tatsächlich Ursachen
von Leid waren, während wir Dinge abgelehnt haben, die uns andauerndes Glück hätten bringen
könnten. Zunächst geht es darum, solche Fehler zu erkennen. Der zweite Schritt besteht dann
darin, unsere Gewohnheiten und Wahrnehmungen so zu verändern, dass wir uns selbst auf den
Pfad zurückführen können, der weg vom Leid und hin zum Glück führt. Wenn wir erkennen, dass
sich die Ursachen von Leid verändern lassen und wir selbst in der Lage dazu sind, sie zu
verwandeln, und wir uns dann zu diesem Schritt entscheiden, kultivieren wir Selbstmitgefühl (siehe
. Es wird Selbstmitgefühl genannt, weil es der aufrichtige Weg ist, für uns selbst zu sorgen
und uns von unnötigem Leid zu befreien.
Einsicht in unser geistiges Leben gewinnen und Achtsamkeit kultivieren
Hier geht es darum, die eigene Begierde weder zu verleugnen, noch darin zu schwelgen, sondern
sie zu beobachten und eine gesündere Beziehung dazu aufzubauen und sie allmählich immer
besser zu beherrschen. Dies gelingt nur, wenn wir unsere Fähigkeit zur Aufmerksamkeit für unser
seelisches Erleben stärker kultivieren. Wenn wir der Begierde oder der Aversion nachgeben,
verstärken wir solche Muster nur. Eine Unterdrückung funktioniert ebenso wenig. Die dritte
Möglichkeit – zwischen Maßlosigkeit und Askese – ist die Transformation. Diese wird möglich,
wenn wir Einsichten gewinnen in die emotionalen Muster, die unsere Begierden und Aversionen
antreiben. Eine solche Transformation kann gelingen, wenn man sich mit seinen eigenen
Erfahrungen in einer nicht-reaktiven, neutralen Weise ohne Begierde oder Aversion verbinden
kann. Aus dieser nicht-reaktiven Haltung heraus kann man dann den Moment zwischen Reiz und
Reaktion für die Entscheidung nutzen, wie man auf eine bestimmte Emotion reagieren will. Wenn
es eine konstruktive Emotion ist, kann man sie unterstützen. Wenn es eine destruktive Emotion ist,
kann man Maßnahmen ergreifen, um sie zu begrenzen.
Im Alltagsleben ist es oft schwierig, sich selbst zurückzuhalten und von einer reaktiven in eine
nicht-reaktive Haltung umzuschalten, in der man bedacht und vernünftig statt instinktiv oder aus
gewohnten, aber ungesunden Mustern heraus reagiert. Glücklicherweise lässt sich das aber in der
Meditation einüben und mit der Praxis des Den-Geist-in-seinem-natürlichen-Zustand-zur-Ruhe-
bringen kultivieren. Natürlicher Zustand bedeutet in diesem Sinne ein ungekünstelter Zustand des
Geistes, der weder hinter etwas her rennt, das wir begehren, noch etwas wegstößt, was wir
ablehnen, sondern in einer nicht-bewertenden Weise einfach beobachtet, was im Erleben entsteht.
Nach und nach lernen wir dann, uns mit Erlebnissen zu verbinden, ohne uns unmittelbar von ihnen
gefangen nehmen zu lassen. Dadurch transformiert sich die Weise, in der wir Begierde und
Aversion erleben. Und das ermöglicht es uns wiederum, Selbstmitgefühl zu praktizieren, weil wir
jetzt die Instrumente in der Hand haben, uns die Emotionen und Gedankenmuster abzugewöhnen,
die zu Leid führen, indem wir ihnen nicht mehr einfach nachgeben. Stattdessen stärken wir
konstruktive Emotionen und Gedankenmuster, die zu größerem Wohlbefinden und Glück für uns
selbst und andere führen.
Diese Praxis des Gewahrseins unseres geistigen Lebens – ganz egal, ob auf dem
Meditationskissen oder im Alltagsleben – kann nur gelingen, wenn wir ein gewisses Maß an
Aufmerksamkeitsstabilität entwickeln. In der Regel sind wir nicht darin geschult, die sich in unseren
Köpfen von einem Augenblick zum anderen abspielenden Prozesse und Zustände bewusst
wahrzunehmen. Oft bemerken wir Gefühle erst, wenn sie schon ziemlich stark geworden sind.
Oder wir geraten in ihre Fänge, wenn wir sie bemerken, oder aber wir werden durch etwas
anderes abgelenkt, bevor wir uns um sie kümmern können. Deshalb ist die Kultivierung der
Achtsamkeit ein wesentliches Fundament dafür, den Geist in seinen natürlichen Zustand der Ruhe
zu bringen und Einblick in unsere Innenwelt zu gewinnen. Im CBCT-Programm entwickeln die
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