Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 447

werden, die verschiedenen Bestandteile von subjektiver Erfahrung zu identifizieren und zu
beobachten sowie zu verstehen, wie die subjektive Erfahrung unsere Wahrnehmung der äußeren
Welt einfärbt, um mit diesen Beobachtungen dann so zu arbeiten, dass eine Einsicht in und eine
Sichtweise auf interpersonelle Beziehungen möglich wird. Wenn dies gelingt, verstärkt das
Training die positiven Gefühle der Verbundenheit mit anderen, während es gleichzeitig dazu
beiträgt, die Gefühle von Isolation und Entfremdung zu reduzieren.
Bedingungen schaffen, die Mitgefühl hervorrufen
Wie oben bereits erwähnt, stellt sich die reiche Ernte von selbst ein, wenn alle Bedingungen dafür
erfüllt sind. Dasselbe gilt für Mitgefühl. Im CBCT-Programm wird Mitgefühl kultiviert, indem die
Bedingungen kultiviert werden, die Mitgefühl hervorrufen. Resultate kommen nur aufgrund
stimmiger Bedingungen zustande – und sonst nicht. Der bloße Wunsch nach Mitgefühl lässt kein
Mitgefühl entstehen, genauso wenig wie der Wunsch nach mehr Geld an sich schon zu mehr Geld
führt. Wir können uns nach einer inneren Transformation sehnen. Solange wir aber keine Methode
für die Umsetzung finden, endet unsere Sehnsucht in bloßer Frustration. Schafft man jedoch die
Bedingungen für Mitgefühl, wird Mitgefühl auf natürliche Weise, ja sogar unweigerlich entstehen.
Obwohl die Themen des CBCT in der vorgesehenen Reihenfolge, also vom Anfang bis zum Ende,
unterrichtet werden, ist es durchaus sinnvoll, sie sich einmal in umgekehrter Reihenfolge
anzuschauen und dabei zu untersuchen, was die jeweils unmittelbar vorausgehenden
Bedingungen für Mitgefühl sind, ohne die Mitgefühl nicht entstehen könnte. Diese unmittelbar
vorausgehenden Bedingungen haben wiederum ihre eigenen Ursachen und Bedingungen und
diese Kette setzt sich fort, bis wir den ersten Schritt der Praxis erreicht haben. In den nächsten
Abschnitten dieses Kapitels wollen wir deshalb den Bogen der Kultivierung von Mitgefühl aus
dieser Perspektive betrachten. So können wir alle Bedingungen in den Blick nehmen, die für
Mitgefühl erforderlich sind, und erklären, warum das so ist.
Zwei entscheidende Bedingungen für Mitgefühl: Zuneigung und Unvoreingenommenheit
Mitgefühl ist der aufrichtige Wunsch, andere von Leid zu befreien. Die unmittelbare Vorbedingung
dazu ist die gefühlte Unerträglichkeit, Zeuge des Leids anderer zu sein, ohne etwas zu tun (siehe
. Jemanden leiden zu sehen, empfinden wir als aufwühlend, nicht als erfreulich oder
neutral. Würden wir das Leid anderer nicht als unerträglich empfinden, wären wir nicht motiviert,
sie vom Leid zu befreien. Ohne diese Unerträglichkeit des Leids anderer ist also ein Mitgefühl für
sie nicht möglich. Dies wiederum hängt von unserer Fähigkeit ab, das Leid anderer zu empfinden,
eine Sensibilität für ihr Leid zu entwickeln. Das nennen wir Empathie.
Das Maß der Unerträglichkeit, das wir als Zeuge des Leids anderer erleben, korreliert darüber
hinaus direkt damit, wie liebenswert uns diese anderen erscheinen. Je näher wir uns ihnen fühlen,
umso unerträglicher ist ihr Schmerz für uns. Wenn wir also Mitgefühl für andere entwickeln wollen,
müssen wir zunächst ein Gefühl der Zuneigung zu anderen kultivieren. Unser Sinn für Zuneigung
ist allerdings im Regelfall sehr tendenziös. Wir spüren eine starke Zuneigung zu
Familienangehörigen, während unsere Zuneigung in Bezug auf Menschen, die wir nicht so gut
kennen und die wir nicht direkt als relevant für unser Leben betrachten (was auf einen Großteil
aller Menschen zutrifft), schon wesentlich indifferenter ausfällt. Geht es dann noch um Menschen,
die wir stark ablehnen oder sogar hassen, spüren wir, wenn überhaupt, nur wenig Unbehagen,
wenn wir sie leiden sehen, oder haben schlechtesten Falls sogar unsere Freude daran.
Aus diesem Grund ist es so wichtig, Unvoreingenommenheit als Bedingung für eine vollständige
Entwicklung von Mitgefühl – und für das Entstehen eines unvoreingenommenen Mitgefühls – zu
447
1...,437,438,439,440,441,442,443,444,445,446 448,449,450,451,452,453,454,455,456,457,...557
Powered by FlippingBook