Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 450

kultivieren. Wenn es uns nicht gelingt, unsere starke Voreingenommenheit aufzugeben, bleibt
unser Mitgefühl auf uns nahestehende und geliebte Menschen begrenzt. Mit einem größeren
Gespür und Gefühl für Unvoreingenommenheit sind wir jedoch in der Lage, unser Mitgefühl auf
immer größere Kreise auszuweiten und schließlich sogar die gesamte Menschheit zu lieben –
einschließlich derer, die wir einmal als unsere Feinde betrachtet haben.
Wie oben erwähnt, ist die Saat des Mitgefühls biologisch in uns allen angelegt. Die
Unvoreingenommenheit zu kultivieren, ist wie die Vorbereitung des Ackers, ohne die Wachstum
überhaupt nicht möglich wäre. Die Entwicklung von Zuneigung gegenüber anderen ist wie das
Wasser, das die Saat nährt und für ihr gesundes Wachstum sorgt.
Selbstmitgefühl: Die Erfordernis einer sicheren Grundlage
Die Unerträglichkeit des Leids anderer übersetzt sich nicht automatisch in Mitgefühl. Sie kann
auch zu dem führen, was Psychologen als Empathiestress bezeichnen. Das geschieht, wenn wir
das Leid anderer beobachten, aber paralysiert und verängstigt reagieren und deshalb am liebsten
aus dieser Erfahrung fliehen möchten, statt das Leid dieser Menschen anzugehen und ihnen zu
helfen. Stellen Sie sich zwei Menschen vor, die Zeuge eines schweren Autounfalls werden und die
verletzten Opfer sehen. Eine der Zeuginnen gerät durch den Anblick so unter Stress, dass sie sich
abwendet und intensive Panikgefühle entwickelt. Das ist Empathiestress. Die andere Zeugin sieht
dasselbe, rennt aber hinüber, um zu sehen, ob sie helfen kann. Das ist empathische Anteilnahme.
Damit eine Wahrnehmung von Leid zu empathischer Anteilnahme und nicht zu Empathiestress
führt, braucht es eine sichere Grundlage. Eine sichere Grundlage ist eine Art von Mut, der aus der
inneren Zuversicht erwächst, dass sich Leid überwinden lässt.
Eine Analogie dazu wäre ein Süchtiger, der in den Fängen seiner Sucht verstrickt ist und daraus
keinen Ausweg mehr sieht. Wenn er einen anderen Süchtigen leiden sieht, löst dies bei ihm ein
Gefühl der Hoffnungslosigkeit und der Verzweiflung aus und er fühlt nur Angst. Wenn er aber
erkennt, dass die wahre Ursache seiner Sucht ein Verlangen ist, das er mit der Zeit unter Kontrolle
bringen und bewältigen kann und er dadurch ein Gefühl der inneren Zuversicht in seine Fähigkeit
spürt, seine Sucht mit Hilfe anderer zu überwinden, kann er anders reagieren. Er sieht Licht am
Ende des Tunnels. Wenn er jetzt einen anderen unter den Folgen der Sucht leiden sieht, hat er
eine sichere Grundlage, um mit empathischer Anteilnahme und Hilfsangeboten statt mit
Empathiestress auf diese Person zu reagieren.
Genau das meinte der indische Gelehrte Shantideva, als er schrieb: „Wenn man für sich selbst
nicht einmal von einem solchen Gedanken träumen kann, wie soll es dann möglich sein, solch
einen Gedanken für andere zu haben?“ Man kann Shantideva so verstehen, dass, wenn man nicht
einmal daran glaubt, sein eigenes Leid besiegen zu können und nicht über Entschlusskraft verfügt,
es erreichen zu wollen, wie sollte man dann überhaupt erkennen, dass andere von Leid befreit
werden können, und sich dazu entschließen, ihnen dabei helfen?
Die nächste Frage lautet dann: Wie kann man eine solche sichere Basis schaffen? Sicherheit und
Zuversicht erwachsen daraus, dass man die zugrunde liegenden Ursachen des eigenen Leids
erkennt und dann die starke Entschlusskraft entwickelt, ihnen zu entrinnen. Hier ist es auch
wichtig, unsere unangebrachten Wünsche zu erkennen – unangebracht deshalb, weil es Wünsche
sind, die uns kein langfristiges Glück bescheren und tatsächlich sogar oft das Gegenteil bringen,
nämlich Leid – und in Bezug darauf einen Sinn für Ernüchterung und Desillusionierung zu
entwickeln. Das lässt sich mit der Situation eines Alkoholikers vergleichen, der feststellen muss,
dass der Alkohol keine Quelle von Glück, sondern eine Ursache von Leid ist. Es liegt in der Natur
der Sache, dass wir den Dingen hinterher jagen, die uns vermeintlich Glück bringen, und vor
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