Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 443

einzuprägen, dass sie uns – spontan und sogar unbewusst – zur zweiten Natur wird. Die Zeit nach
der Meditation, also unsere Rückkehr in das normale Leben, ist dabei genauso wichtig wie die
formelle Meditationssitzung selbst.
CBCT arbeitet mit verschiedenen Strategien der Einsichtserlangung. Eine Strategie zur
Entwicklung eines tieferen Verständnisses von Zuneigung besteht zum Beispiel darin, Dankbarkeit
und Wertschätzung durch Anerkennung der Tatsache zu kultivieren, dass wir für alles, was wir
benötigen, voneinander abhängig sind und unsere eigenen Interessen mit denen anderer
verwoben sind. Dabei ist darauf zu achten, dass die eigene Reflektion nicht auf rein intellektueller
oder distanzierter Ebene stehenbleibt. Die analytische Meditation ist etwas sehr Persönliches. Man
muss für sich selbst herausfinden, ob die Dinge wahr sind oder nicht. Und man muss diese
Wahrheiten in tiefer Verbundenheit mit seinem eigenen Leben erfahren. Ansonsten handelt es sich
nicht um analytische Meditation, sondern bloß um eine intellektuelle Übung, die keine
grundlegenden Effekte auf das eigene Leben, die eigenen Verhaltensweisen und die eigenen
Beziehungen zu anderen Menschen haben wird.
Eine affektive Reaktion wie Mitgefühl entsteht auf der Grundlage mehrerer Faktoren. Der indische
Philosoph Dharmakirti hat einmal die rhetorische Frage gestellt: „Was kann das Ergebnis davon
abhalten zu entstehen, wenn alle erforderlichen Bedingungen erfüllt sind?“ Die Ergebnisse
entstehen aus der Anwesenheit ihrer Bedingungen, nicht durch reines Wunschdenken.
Möglicherweise wollen wir mehr Mitgefühl entwickeln, weil wir die Vorteile sehen. Dieser Wunsch
alleine führt aber nicht dazu, dass wir wirklich mehr Mitgefühl haben – genauso wenig, wie es ein
Bauer, der eine reiche Ernte einfahren möchte, bei diesem Wunsch belassen kann. Wenn er
allerdings mit Sorgfalt für die erforderlichen Bedingungen einer reichen Ernte sorgt – also für einen
guten Boden, die Bekämpfung von Unkraut, genug Wasser, gutes Saatgut usw. – wird er eine gute
Ernte einfahren. Und genauso brauchen wir für die Kultivierung von Mitgefühl die geeigneten
Bedingungen, die zu Mitgefühl führen.
Die acht Phasen des CBCT
Die Schritte der CBCT-Praxis können wie folgt zusammengefasst werden:
1.
Aufmerksamkeit und mentale Stabilität kultivieren:
Das Fundament für die Praxis ist die
Kultivierung eines Grundmaßes an verfeinerter Aufmerksamkeit und mentaler Stabilität.
2.
Einsicht in die Natur der mentalen Erfahrung kultivieren:
Der stabilisierte Geist wird dann
genutzt, um zu Einsichten in die Natur der Innenwelt von Gedanken, Gefühlen, Emotionen
und Reaktionen zu gelangen.
3.
Selbstmitgefühl kultivieren:
Der Teilnehmer nimmt die angeborene Sehnsucht nach Glück
und Wohlergehen sowie nach Freisein von Unglück und Unzufriedenheit wahr – er beachtet
also, welche Geisteszustände zur Lebenserfüllung beitragen und welche sie verhindern. Der
Teilnehmer fasst dann den Entschluss, den „giftigen“ mentalen und emotionalen Zuständen,
die Unzufriedenheit fördern, zu entrinnen.
4.
Gleichmut entwickeln:
Normalerweise tendieren wir dazu, an Kategorien von Freunden,
Feinden und Fremden festzuhalten und auf der Grundlage solcher Einteilungen
unterschiedlich auf Menschen zu reagieren – mit übermäßiger Anhaftung, Abneigung oder
Gleichgültigkeit. Der Teilnehmer des CBCT-Programms erkennt bei genauer Betrachtung die
Oberflächlichkeit solcher Kategorien und lernt, sich aus einer tieferen Perspektive heraus mit
Menschen zu verbinden: Wir alle wünschen uns gleichermaßen die Anwesenheit von Glück
und die Abwesenheit von Unzufriedenheit.
5.
Wertschätzung und Dankbarkeit für andere entwickeln:
Obwohl wir Menschen uns oft als
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