Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 327

Die Wissenschaft der subjektiven Erfahrung
Wie fühlt sich das mitfühlende Leben an – und ist ein solches Lebensgefühl von Bedeutung?
Anhand von Erfahrungsberichten über erlebtes Mitgefühl aus erster Hand können Sie selbst in die
Welt der verschiedenen Emotionen, Gedanken und Wahrnehmungen eintauchen, die das Erleben
von Mitgefühl begleiten. Diese Erfahrungsberichte sind in einem späteren Kapitel dieses Buches
zu finden. Sie erfahren zudem, dass ein regelmäßiges, subjektives Mitgefühlserleben mit
Veränderungen in den strukturellen, hormonellen, immunologischen und epigenetischen Systemen
einhergeht. Aber hängen diese beiden Dinge zusammen? Mit anderen Worten: Ist das „Fühlen“
von Mitgefühl einfach ein Indikator dafür, dass die Meditationspraxis gut läuft? Oder gibt es etwas
Besonderes, etwas Substantielles, wenn man Liebe für sich selbst und andere empfindet, positive
Intentionen anderen gegenüber hat und seine Aufmerksamkeit auf andere richtet, das zu
biologischen Veränderungen und Verhaltensänderungen führt?
Viele Wissenschaftler vertreten den Standpunkt, dass die subjektiven Erfahrungen eines
Menschen ein ebenso bedeutsamer und wesentlicher Schauplatz für effektvolle Veränderungen
sind wie ihr Immunsystem oder die HPA-Achse
Letztendlich wird das Leben durch die Brille
der Subjektivität erlebt – der Schock der ersten Regentropfen auf der nackten Haut, die Euphorie
des ersten Kusses, das bleierne Gewicht der Einsamkeit – also müssen auch alle Veränderungen,
die durch Mitgefühl im Körper ausgelöst werden, den Filter der inneren Subjektivität passieren.
Und: Wenn Mitgefühl das subjektive Erleben eines Menschen nicht verändern würde, wie sollte es
dann tiefer eindringen können, um Körper und Gehirn zu beeinflussen?
Zur Erläuterung der Wechselbeziehungen zwischen Mitgefühlserfahrungen und neurologischen
sowie physiologischen Veränderungen werde ich zunächst die Auswirkungen von zwei positiven
Erfahrungen – nämlich positive Emotionen und wahrgenommene Nähe zu anderen, die
mitfühlendes Erleben charakterisieren – auf Körper und Gehirn beschreiben. Danach gehe ich auf
eine Reihe von Studien ein, die sich damit beschäftigen, wie die Liebende-Güte-Meditation (eine
Form der Mitgefühlsschulung) Veränderungen in diesen subjektiven Erlebnissen hervorruft, die
wiederum zu Veränderungen im physiologischen System führen. Und schließlich erläutere ich, wie
die Beziehung zwischen subjektiver Erfahrung und körperlichem Zustand letztendlich bidirektional
verläuft und Mitgefühl so zu einem sich potenziell selbst erhaltenden Zustand macht.
Das subjektive Erleben von sozialer Nähe und Einsamkeit
Empfindungen sozialer Nähe sind ein entscheidender Bestandteil des Mitgefühls (siehe
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. Neuere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass ein Gefühl sozialer Verbundenheit für
die grundlegende körperliche Funktionsfähigkeit genauso notwendig sein könnte wie Essen,
Trinken und Schlafen. So kam eine jüngst durchgeführte Metaanalyse zu dem Schluss, dass das
Empfinden sozialer Nähe das Sterblichkeitsrisiko um 50% bis 91% reduziert hat. Dieser Effekt ist
dreimal größer als der durch sportliche Aktivitäten oder das Einhalten eines gesunden Gewichts
erzielte Effekt und somit mit dem Aufgeben des Rauchens vergleichbar
Konkreter: Die eigene
Wahrnehmung eines engen Eingebunden-Seins in eine Vielzahl sozialer Beziehungen ist mit einer
geringeren Anfälligkeit für Herz-Kreislauf-Erkrankungen
für einige Krebsarten
und für
zahlreiche Infektionen
verbunden. In einer experimentellen Studie haben Forscher über
einen Zeitraum von acht Wochen bei den Teilnehmern einer Studiengruppe im Vergleich zu einer
aktiven Kontrollgruppe gezielt das Gefühl der sozialen Nähe verstärkt. Ergebnisse der Studie
zeigen, dass bei den Studienteilnehmern, die die Bedingung der sozialen Nähe erlebten, der
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