Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 328

Vagustonus (ein Parameter für die autonome Regulation, der mit einer Vielzahl positiver
Gesundheitsfolgen verbunden ist[8])erhöht war.
Genau so, wie soziale Nähe zu positiven gesundheitlichen Auswirkungen führt, ist soziale Isolation
mit einer Vielzahl von negativen Effekten für die Gesundheit assoziiert [9].Was aber noch wichtiger
ist: Das subjektive Erleben eines Isolationsgefühls, das als Einsamkeit bezeichnet wird, wirkt sich
stark auf die Körperfunktionen aus. Das subjektive Einsamkeitsgefühl ist eine unabhängige
Vorhersagevariable für negative seelische und körperliche Gesundheitsauswirkungen – über die
tatsächliche Häufigkeit von sozialen Kontakten hinaus[10].So tragen einsame Erwachsene ein
höheres Risiko, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung[11], hohem Blutdruck[12], Müdigkeit und
Schlafstörungen[13],[14]zu erkranken oder im Laufe der Zeit Einbußen in ihrer körperlichen
Bewegungsfähigkeit [15]und ihrer kognitiven Funktionsfähigkeit[16]zu erleiden. Die positive
Wirkung von Mitgefühl könnte zum Teil darauf zurückzuführen sein, dass sich Menschen dadurch
weniger einsam fühlen und sich selbst in stärkerer Verbundenheit mit anderen und der Welt
erleben, was zu effizienteren und gesünderen Körperfunktionen führt.
Ein Gefühl der Nähe zu anderen ist für das Erleben von Mitgefühl inhärent. Die oben
beschriebenen Forschungsergebnisse lassen vermuten, dass das Näheelement des Mitgefühls
eine treibende Kraft für die vielseitigen physiologischen Auswirkungen der Mitgefühlspraxis sein
könnte.
Das subjektive Erleben positiver Emotionen
Wie von Singer et al. zuvor in diesem Buch beschrieben (sieheKapitel 15), ist Mitgefühl durch
Gefühle der Liebe und Freude sowie weitere positive Emotionen charakterisiert. Darüber hinaus
weiß man, dass positive Emotionen Auswirkungen auf physiologische und neurologische Vorgänge
zu scheinen haben. In einer bemerkenswerten Studie wurde anhand der Anzahl verschiedener
positiver Emotionen, die sich in handschriftlichen Autobiografien fanden, die zu erwartende
Mortalitätsrate nach sechs Jahrzehnten vorausberechnet, wobei Personen im obersten Quartil
zehn Jahre länger lebten als im untersten Quartil[17].Bei gesunden Studienprobanden sind
häufige positive Emotionen mit einer geringeren Anfälligkeit für Herz-Kreislauf-Erkrankungen[18]
und Erkältungen [19]verbunden, während häufige positive Emotionen in Patientengruppen zu einer
reduzierten Sterblichkeitsrate[20]führen. Eine Metaanalyse von rund 300 Studien kam zu dem
Schluss, dass positive Emotionen Vorteile wie Verbesserungen in Problemlösungskompetenzen,
Selbstachtung, Geselligkeit und Beziehungszufriedenheit sowie im altruistischem Verhalten, der
Funktion des Immunsystems und der körperlichen Gesundheit mit sich bringen[21].
Während sich einige Studien auf die Vorteile bestimmter positiver Emotionen wie Liebe,
Dankbarkeit, Zufriedenheit oder Freude konzentrieren, lässt die obige Untersuchung vermuten,
dass die Häufigkeit der positiven emotionalen Erlebnissen zu gesundheitlichen Auswirkungen führt
und nicht das spezifische positive Gefühl. Diese kontra-intuitive Schlussfolgerung könnte mit der
Broaden-and-build-Theorie von Fredrickson [22],[23]zu erklären sein, die besagt, dass im
Gegensatz zu negativen Emotionen (wie Wut oder Angst), die das Bewusstsein der Menschen im
Hinblick auf überlebensfördernde Aktionen (wie Flucht oder Kampf) verengen, positive Emotionen
(wie Freude, Interesse, Gelassenheit oder Liebe) das Bewusstsein in einer Weise erweitern, die im
Laufe der Zeit überlebensfördernde persönliche Ressourcen aufbaut (also zum Beispiel das
Wissen darum, wie man sich selbst helfen kann, die Resilienz, der Aufbau sozialer Bindungen und
der Erwerb körperlicher Fitness). Laborexperimente, bei denen Verhalten[24],
Augenbewegungen [25]und Hirnaktivität[26]ausgewertet wurden, bestätigen eine
Bewusstseinserweiterung durch positive Emotionen. Diese Forschungsergebnisse implizieren,
dass Mitgefühl möglicherweise „die Augen öffnet“, genauso, wie es „das Herz öffnet“, was zu
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