Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 263

Mit Schmerzen leben
Es gibt Menschen, wenn auch nur wenige, denen die Fähigkeit fehlt, körperlichen Schmerz zu
empfinden. Man könnte Gefallen an dem Gedanken finden, nie mehr scheußliche Kopfschmerzen
aushalten zu müssen. Aber ausgerechnet diese Menschen leben nicht lange. Denn Schmerzen
sind zwar unangenehm, aber ein notwendiges Signal für drohende Gefahren und deshalb
entscheidend für unsere Fähigkeit, Gefahren zu vermeiden. Doch warum müssen wir bei
Schmerzen leiden? Würde es nicht ausreichen, über ein Warnsystem zu verfügen, das uns schlicht
und einfach alarmiert? Interessanterweise wurde bereits vor rund 2.500 Jahren vermutet, dass der
akute Aspekt von Schmerzen, den wir zum Überleben benötigen, tatsächlich nicht
notwendigerweise mit Leiden verbunden sein muss. Diese Belehrung wird Buddha zugeschrieben,
der über den ersten und den zweiten Pfeil des Schmerzes sprach. Der erste Pfeil ist das
Warnsignal und der zweite Pfeil das unnötige Leid, das den Menschen infolge ihres ungeschulten
Geistes zuteil wird
Man könnte sogar sagen, dass der Buddhismus seine Existenz in
Wirklichkeit dem Schmerz zu verdanken hat. Denn angeblich sah sich Buddha letztendlich durch
die Erkenntnis, dass alle Lebewesen leiden, dazu veranlasst, nach einer Lösung zu suchen. Das
Ergebnis dieses Bemühens waren zahlreiche Übungen und Theorien, die auch heute noch weit
verbreitet sind und über die Jahrhunderte hinweg weiterentwickelt wurden, um den Bedürfnissen
Leidender gerecht zu werden.
Heute scheint sich der Buddhismus inmitten eines weiteren Übergangs zu befinden, denn
traditionelle Ideen haben sich auf den Weg in den Westen gemacht und werden dort von der
Wissenschaft auf den Prüfstand gestellt. Gewiss ist die wissenschaftliche Untersuchung von
Schmerz nichts Neues. Allerdings hat dieser Bereich in den letzten beiden Jahrzehnten einen
enormen Auftrieb erfahren. Dies hängt nicht zuletzt mit der Entwicklung von bildgebenden
Verfahren für das Gehirn, wie Magnetresonanztomographie (MRT), zusammen. Denn mit Hilfe
diese Technik ließ sich erkennen, dass der Schmerz ein wesentlich komplexeres Geschehen ist,
als die Wissenschaft früher angenommen hatte. Statt eines einzigen Zentrums im Gehirn, das die
Signale verletzter Körperteile empfängt, liegt unserem Schmerzerleben ein kompliziertes Netzwerk
miteinander verbundener Gehirnareale zugrunde. Wie die einzelnen Hirnregionen exakt
funktionieren, wird nach wie vor diskutiert. Und erst in den letzten fünf Jahren wurden Studien
initiiert, die untersuchen, wie sich die Meditationspraxis auf Schmerzen auswirkt
Wenn diese
Geschichte auch noch längst nicht abgeschlossen ist (wie wir sehen werden), so erscheint sie
doch wie ein Widerhall der Worte Buddhas vor vielen Jahrhunderten. Auf den nächsten Seiten
fasse ich den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse hinsichtlich einer
meditationsgestützten Schmerzlinderung zusammen. Dabei dürfte auch der Zusammenhang
zwischen Schmerz und Mitgefühl aus wissenschaftlicher Perspektive deutlich werden.
Schmerz im Gehirn
Beim Erleben von Schmerz geht es bei weitem um mehr als um das einfache brennende oder
stechende Gefühl, als das der Schmerz erscheint, wenn man eine heiße Herdplatte berührt oder
seinen Finger einklemmt. Man geht heute davon aus, dass sich das Schmerzerleben in mehrere
Dimensionen unterteilen lässt
Die sensorisch-diskriminative Dimension ermöglicht es uns, die
Empfindung im Körper zu lokalisieren und ihre Stärke oder Intensität wahrzunehmen. Die affektiv-
motivationale Dimension von Schmerz bezieht sich eher darauf, wie sich der verletzende Stimulus
für uns anfühlt. Damit ist gemeint, dass Schmerz fast immer mit einer emotionalen Reaktion
verbunden ist. Und zuletzt gibt es noch die kognitiv-evaluativen Aspekte der
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