Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 273

Gehirns unterliegt. Wir entdeckten, dass die graue Substanz bei den Meditierenden in mehreren
schmerzrelevanten Hirnregionen, einschließlich ACC, ebenfalls dicker war. Erinnern wir uns, dass
der ACC eine bedeutende Rolle in den oben erläuterten funktionalen MRT-Ergebnissen spielte.
Zudem wiesen Meditierende mit größerer Meditationserfahrung in dieser Region eine dickere
graue Substanz auf. Ein dickerer ACC war auch mit einer höheren Temperaturschwelle bis zur
Rückmeldung von moderatem Schmerz assoziiert. Es gibt also Anhaltspunkte dafür, dass
Meditation die physische Struktur des Gehirns in äußerst spezieller Weise verändert, was die
Fähigkeit zur Schmerzmodulation erklären könnte. Man kann jedoch auch die Möglichkeit nicht
ausschließen, dass die Meditierenden bereits vor Beginn ihrer Meditationspraxis dickere
Gehirnstrukturen aufwiesen, wenn dies auch angesichts des festgestellten Zusammenhangs mit
ihrem Erfahrungsniveau unwahrscheinlich erscheint. Zudem liegt jetzt ein Bericht vor, der
Veränderungen in der grauen Substanz nach einem achtwöchigen Meditationsprogramm
nachweist
. Nach der Intervention wurde bei den Teilnehmern eine Zunahme der grauen
Substanz im Hippocampus, im posterioren Cingulum, an der temporo-parietalen Verbindung und
im Kleinhirn festgestellt. Und jetzt stellen Sie sich wahrscheinlich so langsam die Frage: Sollte es
in diesem Kapitel nicht eigentlich um Mitgefühl gehen?
Mitgefühl: Die erlösende Gnade?
Wir wissen heute, dass unser Gehirn im Wortsinne durch Lernen geformt wird.
Meditationspraktiken bilden da keine Ausnahme. Wichtig ist auch zu wissen, dass es der
Buddhismus nicht bei Achtsamkeit belässt. Erkenntnisse über die Verbundenheit aller mit allen,
die Impermanenz und die universelle Natur des Leids fließen ein, wenn es darum geht, unser
Mitgefühl zu kultivieren. In anderen Kapiteln sind Informationen über Meditationstechniken zu
finden, die zur Entwicklung von Mitgefühl beitragen. Bemerkenswerterweise kann dieser Zustand
auch beim Mitfühlenden selbst Leiden lindern! Doch bevor wir fortfahren, gilt es, weitere
Puzzleteilchen zu beachten.
Untersuchungen zeigen, dass emotionale und seelische Schmerzen ähnliche Hirnregionen wie
physische Schmerzen aktivieren. Sozialer Ausschluss aktiviert den ACC und die anteriore INS
proportional zu dem von den Studienteilnehmern berichteten negativen Stress
. Wenn wir
andere Menschen beobachten, die von Schmerz betroffen sind, werden schmerzrelevante
Regionen aktiviert
. Bemerkenswert dabei ist, dass wir den Schmerz eines uns nicht
gleichgültigen Menschen, also beispielsweise unseres Lebensgefährten
oder eines Fans
desselben Sportteams
mit größerer Wahrscheinlichkeit
fühlen
. Dabei geht es also um
Menschen, für die wir Empathie empfinden. In nicht so empathie-fördernden Situationen jedoch –
wenn wir beispielsweise einen Fan der gegnerischen Fußballmannschaft in seinem Schmerz
beobachten – ist die Hirnaktivität sehr viel geringer. In einem anderen Wissenschaftsbereich wurde
die These aufgestellt, dass Gefühle der Liebe, der Herzlichkeit und der Fürsorge sowie
Verbindungen zwischen den diese Gefühle verkörpernden Menschen das Ergebnis einer
Freisetzung von Beta-Endorphinen im Gehirn sind
. Diese Substanzen gehören zur Familie der
Opioide, die die belohnenden Wirkungen von Speisen und Medikamenten begründen und
verstärken. In diesem Zusammenhang wurde davon ausgegangen, dass sich Beta-Endorphine
ursprünglich entwickelt haben könnten, um für das Überleben von Tieren entscheidende soziale
Bindungen zu verstärken
. So sollte möglicherweise ein biologischer Mechanismus, der die
Menschen zur Gruppenbildung
anhielt
, das Überleben fördern und im Laufe der Evolution erhalten
bleiben. Heute könnten solche Verbindungen zu einem Partner, zu einem Kind oder sogar zu
einem Fan desselben Sportclubs bestehen. Das sind dann die Menschen, deren Schmerzen wir
selbst
fühlen
, die Menschen, um die wir uns kümmern, diejenigen, für die wir mit größerer
Wahrscheinlichkeit Empathie entwickeln oder denen wir mitfühlend begegnen. Wenn Gefühle der
Herzlichkeit und der Fürsorge tatsächlich mit der Freisetzung von Beta-Endorphinen assoziiert
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