Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 267

berichtete der Yogi, er habe die Stimulation nicht gespürt. Es wurde nicht berichtet, um welche
Meditationspraxis es sich handelte. Bei den Yogi-Techniken handelt es jedoch meist um
Konzentrationstechniken. Eine mögliche Erklärung für diesen Befund wäre, dass dieser Yogi
gelernt hat, seine Aufmerksamkeit so völlig auf seine Meditationsübung zu richten, dass er die
bewusste Wahrnehmung anderer Ereignisse ausschalten kann. Das wäre eine Art von willentlicher
Ablenkung. Solche Geschichten sind faszinierend, aber man sollte ihnen auch nicht zu viel
Gewicht zuschreiben, bevor sie nicht mit einer größeren Probandengruppe wiederholt werden.
Glücklicherweise scheinen aber auch weniger intensive Praktiken unser Schmerzerleben positiv
zu beeinflussen.
Unsere Arbeit kommt zu dem Schluss, dass das Praktizieren von Meditationen über mehrere Jahre
zu Veränderungen in der Schmerzwahrnehmung führt
In einer vorläufigen Studie
rekrutierten wir eine Gruppe von Zen-Meditierenden und eine Kontrollgruppe mit
übereinstimmenden Alters-/Geschlechtsmerkmalen
. Bei der Ermittlung des Schwellenwertes
vor dem Experiment zeigte sich, dass die Meditierenden wesentlich weniger empfindlich auf (am
Bein induzierten) Wärmeschmerz reagierten als die Studienteilnehmer der Kontrollgruppe. Bei den
Meditierenden waren also bis zur Angabe mäßiger Schmerzen Reize mit wesentlich höheren
Temperaturen erforderlich als bei den Kontrollpersonen. Dieses Ergebnis stimmt mit einer früheren
Studie überein
, bei der sich herausstellte, dass das Erlernen der Meditation die Toleranz für
kälteinduzierten Schmerz erhöht. Während des Experiments wurden die Teilnehmer gebeten, ihre
Aufmerksamkeit in unterschiedlicher Weise auf den Schmerz zu richten. Die spezifischen
Bedingungen waren
Konzentration
(Versuche, deine Aufmerksamkeit die ganze Zeit auf den
Stimulus zu richten) sowie
Achtsamkeit
(Versuche, mit deiner Aufmerksamkeit ganz im
gegenwärtigen Moment zu sein, ohne das Erleben automatisch als negativ oder schmerzvoll zu
bewerten). Wie zu erwarten, waren die von den Kontrollprobanden während des
Konzentrationszustandes berichteten Schmerzen wesentlich erhöht, während bei den
Meditierenden keine Veränderung gegenüber ihren Baseline-Werten festgestellt wurde. Wir
vermuteten hier, dass Zen-Praktizierende gelernt haben, stärker auf ihr gegenwärtiges Erleben zu
achten und deshalb bei der Bitte, explizit zu fokussieren, keine Veränderung festgestellt werden
konnte. Dies würde mit Studienergebnissen übereinstimmen, nach denen Probanden
Aufmerksamkeit erfordernde Aufgaben nach einer Meditationsschulung mit höherer Leistung
absolvierten
Nicht erklären würde es jedoch, warum sie schmerztoleranter sind. Eigentlich
könnte man sogar das Gegenteil erwarten. Hypervigilanz, ein klinischer Begriff für erhöhte
Wachheit, ist mit einer Übersteigerung negativer Symptome assoziiert
Eine erhöhte
Aufmerksamkeit für den Schmerz, wie soeben formuliert, müsste das Erleben somit verstärken und
die Toleranz herabsetzen. Also ist hier eindeutig noch ein anderer Aspekt beteiligt. Ein Teil der
Antwort dürfte im Achtsamkeitszustand zu finden sein.
Präsent sein: Wie achtsamkeitsbasierte Meditationen Schmerz beeinflussen können
Die konzentrative Meditation gilt zwar als stabilisierend für den Geist. Dennoch – so eine der
Einsichten von Buddha – reicht dies zur Überwindung von Leid nicht aus. Man braucht zudem
Einsicht: Einsicht in die Eigenarten des Geistes, in die eigenen Verhaltensweisen und sogar in die
Weise, wie man die Welt wahrnimmt (oder nicht wahrnimmt). Achtsamkeit bedeutet, sich dessen
bewusst zu sein, was man tut, während man es tut – eben präsent zu sein. Dabei werden die
Dinge so genommen, wie sie sind, und einfach beobachtet statt ausgefeilte Bewertungen
vorzunehmen oder in Reaktivität zu verfallen. Ich bin davon überzeugt, dass diese Geisteshaltung
viel damit zu tun hat, dass Meditierende weniger schmerzempfindlich sind.
Die oben bereits erwähnte Studie hatte sich als zweite zu untersuchende Bedingung die achtsame
Aufmerksamkeit vorgenommen. Dieses Mal berichteten die Probanden der Kontrollgruppe keinen
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