Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 287

Empathie durch Training kultivieren lässt. In diesem Zusammenhang interessierte sie sich dafür,
wie Empathie im Gehirn eines erfahrenen Meditierenden kodiert wird, der solche prosozialen
Emotionen seit vielen Jahren kultiviert hat. Glücklicherweise hatte Tania Singer Matthieu Ricard
getroffen, der schon seit langer Zeit buddhistische Meditationen praktizierte (siehe
.
Matthieu Ricard hatte bereits in Zusammenarbeit mit dem Mind and Life Institute an vielen
neurowissenschaftlichen Forschungsprojekten teilgenommen und war deshalb offen für diese Art
von Untersuchungen. So hatte er beispielsweise mit den Wissenschaftlern Antoine Lutz und
Richard Davidson in Projekten zusammengearbeitet, bei denen Meditationserfahrene mit
Meditationsneulingen verglichen wurden. In einer dieser Studien war festgestellt worden, dass
Meditationserfahrene im Gegensatz zu Meditationsneulingen eine erhöhte Insula-Aktivierung
aufwiesen, wenn sie in mitfühlende Zustände versunken waren und Stimmen leidender Menschen
hörten
In einem in diesem Zusammenhang erschienenen Artikel berichtete Antoine Lutz, dass
die Aktivierung in der mittleren Insula mit Herzfrequenzreaktionen verbunden war und diese
Verbindung bei erfahrenen Meditierenden stärker ausfiel als bei Meditationsneulingen
Die ersten Schritte ihrer Plastizitätsforschung unternahmen Tania Singer und ihre Kollegen in
einem Kooperationsprojekt mit der Universität Maastricht gemeinsam mit Rainer Goebel und
Bettina Sorger, die mit einer interessanten Technik arbeiteten: Real-Time fMRI. Diese relativ neue
Technik ermöglicht die Online-Visualisierung der Hirnaktivität, während im Gerät liegende
Probanden verschiedene geistige Aktivitäten ausführen.
Um die neuronale Signatur eines in Mitgefühlsmeditation erfahrenen Meditierenden während der
Meditation untersuchen zu können, baten die Forscher Matthieu Ricard, sich in unterschiedliche
Zustände des Mitgefühls zu versenken: Nichtreferenzielles Mitgefühl, Mitgefühl für das Leid
anderer und liebende Güte. Zur Überraschung der Forscher lösten alle Zustände Aktivierungen in
ziemlich ähnlichen Netzwerken des Gehirns aus. Allerdings glichen diese mitgefühlsrelevanten
Netzwerke nicht dem oben beschriebenen Schmerzempathie-Netzwerk, das so häufig bei
Meditationsneulingen beobachtet wird, wenn diese mit dem Leid anderer konfrontiert werden. Und
das war verblüffend. Die Wissenschaftler konnten in dieser Situation die Hirnaktivitäten eines
erfahrenen Meditierenden verfolgen und stellten dabei fest, dass alle Zustände, in die er eintauchte
in ihrer neuronalen Signatur stark von ihren Erwartungen abwichen. Nach der
Kernspintomographie wollten die Forscher von Matthieu Ricard wissen, was er macht, wenn er
sich in diese unterschiedlichen Mitgefühlszustände versenkt. Während dieser Gespräche
bemerkten die Wissenschaftler, dass Matthieu in seinem Bericht über die Teilhabe am Schmerz
anderer über einen warmen, positiven Zustand in Verbindung mit einer starken prosozialen
Motivation sprach und nicht von starken negativen Gefühlen.
Vor diesem Hintergrund wechselte Tania Singer zur Universität Zürich, wo sie und ihr Team mit
der Erforschung der Plastizität sozialer Emotionen begannen. Ziel war es zu untersuchen, ob sich
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