Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 344

Eine zweite Art von Emotionen, die mit der Erfahrung des Mitgefühls kollidieren dürfte, sind
Gefühle der Selbstbefangenheit: Scham, Peinlichkeit oder Stolz. Diese Emotionen beinhalten
einen Ich-Fokus – entweder negativ, wie im Fall von Scham und Verlegenheit, oder positiv, wie im
Fall von Stolz
. Bei Scham liegt der Schwerpunkt auf negativen Selbstbewertungen hinsichtlich
von Kernaspekten (Beispiel: Man schämt sich, weil man nicht intelligent ist). Scham kann zum
Beispiel auftreten, wenn wir unser Ziel bedroht sehen, die Achtung, den Status und die Akzeptanz
der eigenen Person in den Augen anderer aufrechtzuerhalten. Bei der Scham wird das eigene
Selbst als beschädigt oder minderwertig bewertet
Auch Peinlichkeit beinhaltet einen
negativ bewertenden Fokus auf das Selbst, richtet sich aber eher auf ein zustandsartiges
Verhalten (beispielsweise, wenn man peinlich berührt ist, weil man vor den Augen anderer
stolpert). Scham und Peinlichkeit dürften zumindest teilweise die Motivation beeinträchtigen, das
Leid anderer zu reduzieren, weil beide Emotionen die Aufmerksamkeit auf die Aufrechterhaltung
des „sozialen Selbstes“ richten und damit die verfügbare Energie und das Interesse an der Notlage
anderer verringern. Während sowohl Mitgefühl als auch Scham/Peinlichkeit ein Gewahrsein des
anderen mit sich mitbringen, unterscheiden sie sich grundsätzlich dadurch, dass Scham und
Peinlichkeit sich darauf konzentrieren, wie andere uns betrachten, während Mitgefühl eine
prosoziale Reaktion ist, die sich auf die Notlage des anderen konzentriert. Wir sind außerdem der
Auffassung, dass auch ein „positiv“ wertender Fokus auf das Selbst, wie dies bei Stolz der Fall ist,
das Erleben von Mitgefühl reduziert, weil auch der Schwerpunkt dieser sozialen Emotion auf der
Aufrechterhaltung des Selbstes in den Augen anderer und nicht auf der Notlage des anderen liegt.
Die Tatsache, dass die auf Bedrohung basierenden Emotionssysteme und der Mitgefühlsantrieb
unterschiedliche psychobiologische Korrelate aufweisen, unterstützt ihre potenziell antithetische
Natur. So werden beispielsweise bei der Kampf-oder-Flucht-Reaktion Herz-Kreislauf- und
Atmungssysteme aktiviert, um den Organismus auf eine Bedrohungsbewältigung
einzustellen
,
. Diese Reaktion ist mit einer Aktivierung des sympathischen Nervensystems
(SNS) assoziiert und führt zu einer Ausschüttung von direkt auf das Herz wirkenden Hormonen,
wie Noradrenalin, um Herzfrequenz, Blutdruck und andere Herz-Kreislauf-Funktionen zu
intensivieren
Es gibt einen kleineren, aber schnell wachsenden Forschungsmaterialbestand
mit Hinweisen darauf, dass sich die Biologie von prosozialen, „auf andere bezogenen“ Reaktionen
stark von der Biologie der Kampf-oder-Flucht-Reaktion unterscheidet. Insbesondere ist die
prosoziale Reaktion wohl durchgängiger mit einer Aktivierung des parasympathischen
Nervensystems (PNS) assoziiert, das vom Vagusnerv vermittelt wird und als Gegenspieler zum
SNS agiert. Bemerkenswerterweise hat die Aktivierung des SNS eine Verlangsamung der
Herzfrequenz zur Folge und erfolgt auch in Verbindung mit Orientierung und nach außen
gerichteter Aufmerksamkeit
Dementsprechend folgern Stephen Porges und Kollegen, dass bei aktiviertem
„Sozialengagement“-System eine Aktivierung des PNS erfolgt, was wiederum mit einer
beruhigenden Reaktion und einer Reduzierung der Aktivierung von Stresssystemen, einschließlich
des SNS, assoziiert is
. So können beispielsweise vertraute Gesichter und ein „sicheres“
Umfeld die Kampf-oder-Fluchtaktivität reduzieren und dieses wiederherstellende System
aktivieren, das mit erhöhten respiratorische Sinusarrhythmien (RSA) einhergeht – einem Index des
PNS (stärkere RSA sind ein Zeichen für größere parasympathische Aktivität)
Keltner und
andere vertreten die Auffassung, dass diese Veränderungen den Körper auf eine Annäherung
vorbereiten und ihn beruhigen. Dieses System unterstützt verstärkte soziale Verhaltensweisen und
soziale Kohäsion in höherem Maße, während die mit der Kampf-oder-Flucht-Reaktion assoziierte
Physiologie diese eher annäherungsorientierte psychobiologische Reaktion stören würde.
Es ist allseits bekannt, dass der Vagusnerv eine wesentliche Rolle für die Herzfrequenz spielt bzw.
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