Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 345

als Bremse agiert, während bedrohungsbasierte Emotionen im Gegensatz dazu generell mit einer
Erhöhung der Herzfrequenz assoziiert sind
(siehe auch
. Die umfassende
psychobiologische Literatur unterstützt die bedeutende Prämisse, dass prosoziale Reaktionen die
eigene Kampf-oder-Fluchtreaktion herabsetzen können. Mit anderen Worten: Die Ausrichtung
prosozialer Reaktionen wie Mitgefühl auf andere kann zu einer Reduzierung
der eigenen
Kampf-
oder-Flucht-Aktivität führen. So haben beispielsweise Nancy Eisenberg und Kollegen
nachgewiesen, dass Kinder und Erwachsene, die sich Sympathie weckende Filme anschauten, im
Vergleich zu Reaktionen auf Filme, die eher Angst hervorriefen, verlangsamte Herzfrequenzen
aufwiesen
. Ein zunehmender Forschungsbestand lässt zudem vermuten, dass prosoziale
Verhaltensweisen Stress reduzieren und das Wohlbefinden verbessern
,
,
,
. Es stellt
sich die äußerst interessante Frage, ob prosoziales Verhalten eine erfolgreichere Methode zur
Herabregulierung einer übermäßigen oder überaktiven SNS-Reaktion ist als beispielsweise
traditionelle Entspannungsmechanismen.
Unterstützende Effekte der emotionalen Balance
Wir haben oben erläutert, dass bestimmte Emotionen, die die Aufmerksamkeit auf die eigene
Person richten, und zwar insbesondere bedrohungsrelevante und auf Schuldzuweisung fokussierte
Emotionen, wie Wut oder Scham, einer Kultivierung des Mitgefühls direkt im Wege stehen können.
Zudem vertreten wir die Auffassung, dass die emotionale Intensität in einem generelleren Sinne –
unabhängig vom Emotionstyp und von der Wertigkeit – Mitgefühl behindern kann. Mehrere
Forschungslinien gehen von einer Assoziation zwischen Mitgefühl und kognitiver Kontrolle oder der
Fähigkeit aus, die Perspektive eines anderen einzunehmen und bestimmte Impulse im Dienste des
anderen zu unterdrücken. Nancy Eisenberg und Daniel Batson haben die ersten
Forschungsstudien durchgeführt, die darauf schließen lassen, dass eine starke emotionale
Übertragung oder eine persönliche Notlage durch das Miterleben der Not anderer überwältigend
wirken und die auf andere bezogene Motivation unterdrücken kann (siehe auch
zu
weiteren Informationen über die Biologie von Empathiestress im Gegensatz zur Biologie des
Mitgefühls). In zunehmendem Maße unterstützen Erkenntnisse aus dem Feld der sozialen
Neurowissenschaften solche Verbindungen im Sinne einer Überlappung neuraler Schaltkreise, die
an der Emotionsregulation, der kognitiven Kontrolle und der Fähigkeit beteiligt sind, Mitgefühl und
andere Formen prosozialer Reaktionen zu kultivieren
. Insbesondere lassen Studien sowohl
aus der Sozialpsychologie als auch den sozialen Neurowissenschaften vermuten, dass
übermäßige oder fehlgesteuerte emotionale Reaktionen eine Person daran hindern können, sich
von dieser Emotion zu distanzieren, um sich selbst gegen andere abgrenzen, die vorliegende
Situation präzise beurteilen und ihre Aufmerksamkeitsressourcen auf den anderen richten zu
können
,
. Dies ist von besonderer Relevanz, wenn man den Mitgefühlsantrieb als ein
Konzept begreift, das ein präzises Gewahrsein des Leids anderer und den intentionalen Fokus auf
der Linderung des Leids beinhaltet.
Andererseits kann auch zu wenig Emotion den Mitgefühlsantrieb stören. Forschungsergebnisse
haben eine konsistente Verbindung zwischen affektiver Empathie (empfindsam gegenüber den
Emotionen anderer sein und die Emotionen anderer emotional teilen oder damit im Einklang sein)
und den beiden Kernkomponenten des Mitgefühls, dem Gewahrsein der Emotionen anderer und
dem auf den anderen bezogenen Wunsch, sein Leid zu verringern, ergeben
Unterstützt wird diese Verbindung auch durch biologische Indizien, die eine Verbindung zwischen
Empathie-relevanten Gehirnreaktionen in der anterioren Insula und prosozialem Verhalten
aufzeigen
Affektive Empathie oder ein moderates Maß an „emotionalem Austausch“, bei dem
das eigene Selbst nach wie vor vom anderen unterschieden wird, gelten grundsätzlich als
förderlich für das Verstehen der Emotionen anderer und motivieren einen auf andere bezogenen
Mitgefühlsantrieb. Bei einer ganzen Reihe von Psychopathologien, wie Depression
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