Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 339

Die Kunst der emotionalen Balance
Wenn Sie über Vorbilder des Mitgefühls in der Geschichte nachdenken, in welchem
Gefühlszustand stellen Sie sich diese dann vor?? Haben Sie Bilder von Mahatma Gandhi, Mutter
Theresa oder Jesus Christus in feuriger Wut, tiefer Scham oder unkontrollierbarem Kummer über
das Leid der Welt vor Augen? Stellen Sie sich diese Menschen mit übermäßig herzlichen und
wohligen Gefühlen gegenüber Unterdrückern oder Verfolgern vor, denen sie – trotz allem – ihr
Mitgefühl zeigen? Oder stellen Sie sich solche legendären Menschen mit einem gewissen Maß an
Gleichmut und emotionaler Balance vor – selbst wenn sie gerade dabei sind, großes Leid zu
bekämpfen? Wie die lateinischen Wurzeln des Wortes
movere
(bewegen) vermuten lassen,
können Emotionen ein starker Motivator sein, der Menschen zu bestimmten Handlungstendenzen
antreibt
Angst motiviert Organismen dazu, vor Gefahren zu fliehen. Wut motiviert dazu,
anzugreifen und sich zu verteidigen. Und Freude veranlasst uns, Kontakt zu suchen. Tatsächlich
wird in der Literatur, die sich mit Emotion und Motivation beschäftigt, oft die Annahme vertreten,
dass Emotionen motivierend sind und konsequenterweise intensivere Emotionen stärker
motivierend wirken
Verblüffenderweise scheint die Verbindung zwischen Emotion und Mitgefühl
etwas anders zu funktionieren. Forschungsergebnisse weisen zunehmend auf eine „Goldilocks
Principle“-ähnliche Beziehung hin: Mitgefühl gedeiht bei emotionalen Bedingungen, die durch ein
Nicht-zu-viel und ein Nicht-zu-wenig bzw. ein Nicht-zu-heiß und ein Nicht-zu-kalt charakterisiert
sind, also die
genau die richtige
Temperatur benötigen – emotionale Balance eben. In diesem
Kapitel erörtern wir die theoretischen und empirischen Grundlagen eines Verständnisses von
Mitgefühl als Motivation statt Emotion und zeigen nachfolgend auf, wie bestimmte Emotionen
diesen motivationalen Antrieb stören oder fördern können. Und ausgehend davon erläutern wir
dann, wie Achtsamkeitsschulung und Emotionsregulation den Antrieb zu einem mitfühlenden
Handeln intensivieren können.
Mitgefühl als Motiv
Da es keine einheitliche Definition für den Begriff Mitgefühl gibt, benutzen Wissenschaftler oft
alternative Begriffe, die andere bezogene Emotionen beschreiben, wie Sympathie, Empathie,
empathische Anteilnahme oder Mitleid (eine Übersicht dazu ist in Goetz, Keltner & Simon-Thomas,
2010
zu finden; siehe auch
zum Unterschied zwischen Empathie und Mitgefühl).
Lexikalische Untersuchungen in verschiedenen Sprachen (beispielsweise Englisch
Italienisch
[6]
und Chinesisch
liefern ebenfalls Hinweise darauf, dass Mitgefühl typischerweise mit solchen
Emotionsbegriffen zusammen genannt wird. Wir vertreten dagegen die Auffassung, dass sich
Mitgefühl statt als eine Emotion besser als ein motivationaler Antrieb konzeptualisieren lässt, der
durch bestimmte emotionale Zustände verstärkt oder unterdrückt wird. Und in der Tat
konzentrieren sich englische Lexika eher auf diesen motivationalen Kernaspekt, indem sie
Mitgefühl als „deep awareness of the suffering of another coupled with the wish to relieve it“
(American Heritage Dictionary) oder als „human quality of understanding the suffering of others
and wanting to do something about it“ (Merriam-Webster) definieren. In ähnlicher Weise hat der
Dalai Lama Mitgefühl einmal als „a sensitivity to the suffering of self and others, with a deep
commitment to try to relieve it“
definiert. In all diesen Definitionen geht es nicht um einen
charakteristischen Affektzustand, sondern stattdessen um ein Gewahrsein von Leid und eine
Motivation, es zu lindern.
Konzeptualisiert man Mitgefühl als Motivation statt als Emotion, hat das gleich mehrere wichtige
Implikationen. Auf der grundlegenden phänomenologischen Ebene ergibt sich daraus zunächst die
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