Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 342

logische Schlussfolgerung, was Mitgefühl ist und was es nicht ist. Im Unterschied zu einem
Konzept des Mitgefühls im Sinne der wesentlichen Grundsätze einer Emotion (also ein schnelles
und wirksames Signal mit einem eindeutigen subjektiven, verhaltensorientierten und
physiologischen Profil
wird Mitgefühl stattdessen zu einem Phänomen, das durch
Motivationsmerkmale definiert wird: (a)
Aktivierung
oder der Wunsch, ein Verhalten zu initiieren;
(b)
Beharrlichkeit
oder die kontinuierliche Bemühung in Richtung auf ein Ziel, auch angesichts von
Hindernissen und (c)
Intensität
oder das Maß der Energie und Konzentration, das zum Erreichen
eines Ziels erforderlich ist
Affektive, kognitive, biologische und soziale Faktoren tragen zu
motivationalen Antrieben bei. Allerdings scheinen sie die Struktur des Mitgefühls nicht im Sinne
eines einzelnen Programms oder Profils zu definieren.
Mit anderen Worten: Mitgefühl wird nicht über ein Gefühl wie Herzlichkeit, Sympathie oder Trauer
für andere definiert, sondern als motivationaler Antrieb betrachtet, der sich offensichtlich nicht auf
einen einzigartigen und einmaligen Erregungszustand stützt, diesen erfordert oder über diesen
kommuniziert wird. Und während zwar prototypische, verhaltensbasierte Ausdrucksweisen des
Mitgefühls (wie Augenbrauen schräg hochziehen, fixierter Blick und nach vorne lehnen
vorgeschlagen wurden, sind – wie eine Studie kürzlich herausgefunden hat – nur sehr wenige
Menschen (nämlich zwischen 0% und 8% in zwei Studien) in der Lage, Gesichtsausdrücke von
„Mitgefühl“ uneingeschränkt als solche zu identifizieren. Häufiger interpretieren sie den Ausdruck
einfach als Traurigkeit
. Das Fehlen eines charakteristischen Merkmals und eines einheitlichen
mitfühlenden Gesichtsausdrucks entspricht der Prämisse, dass Mitgefühl eher ein Antrieb ist, der
unter verschiedenen emotionalen Bedingungen oder sogar in Abwesenheit von Emotionen
entstehen kann.
Und während sich Emotionen eher auf evaluative und signalisierende Aspekte der Organismus-
Objekt-Beziehung konzentrieren, unterstreichen motivationale Antriebe unmittelbarer den Wunsch
des Organismus, hinsichtlich des Objektes oder des Umfeldes zu handeln
Wird Mitgefühl also
als eine Motivation statt als eine Emotion konzeptualisiert, kann der „andere“ oder das Ziel des
Mitgefühls bedingungslos existieren und kann Mitgefühl somit als eine weit gefasste, nicht-
bewertende Ambition verstanden werden, die auch in Abwesenheit eines emotionalen Bezugs zum
Zielobjekt oder einer Bewertung des Zielobjekts entstehen kann. Dies eröffnet – im Sinne obiger
Ausführungen – die Möglichkeit, dass ein Mensch wie Gandhi möglicherweise echtes Mitgefühl für
seine Unterdrücker empfunden hat, ohne ihnen gegenüber viel Herzlichkeit oder Sympathie zu
verspüren.
Eine weitere zentrale Implikation der Betrachtung von Mitgefühl in Abgrenzung zur Emotion
besteht darin, wie wir die Beziehung zwischen Mitgefühl und Emotion verstehen (siehe unser
Modell für diese Beziehung in
. Aus theoretischer Sicht sind Emotion und Motivation
insofern eng miteinander verbunden, als dass Emotionen oft Vorgänger von motivationalen
Antrieben sind, die uns signalisieren, dass wir auf Objekte in unserem Umfeld aufmerksam werden
und in spezieller Weise agieren sollten
Dementsprechend kann Mitgefühl als ein dynamischer,
motivationaler Antrieb betrachtet werden, der durch verschiedene emotionale Prozesse behindert
oder gefördert werden kann. Insbesondere lautet unsere These, dass Emotionen, die das Kampf-
oder-Flucht-Reaktionssystem aktivieren und die Aufmerksamkeit auf uns selbst richten, wie dies
etwa bei Wut, Angst, Scham und Peinlichkeit der Fall ist, den Mitgefühlsantrieb unterdrücken. Ein
wachsender Forschungsmaterialbestand weist darauf hin, dass Mitgefühl im Gegensatz zu
anderen motivationalen Antrieben, wie Aggression oder Vergnügungssucht, am besten unter
Bedingungen der emotionalen Balance oder moderaten emotionalen Erregungszuständen
funktioniert. Mit anderen Worten: Eine subjektive Gefühlsintensität scheint – insbesondere im Fall
negativ bewerteter Emotionen, aber grundsätzlich bei übermäßiger Emotionalität – Mitgefühl zu
konterkarieren. Andererseits können aber auch emotionale Abstumpfung oder Gleichgültigkeit
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