Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 407

In Partnerbeziehungen dringen unsere wahren Gefühle selbst dann nach außen, wenn wir sie zu
verstecken versuchen. Wenn ich beispielsweise wütend bin, starre ich möglicherweise einen
Sekundenbruchteil zu lange oder runzle die Stirn statt zu lächeln, und dann sagt mein Partner
etwas verärgert: „Warum bist du so ärgerlich?“, und dann denke ich: „Ich? Warum bist du so
ärgerlich?“. Tatsächlich sind wir
beide
ärgerlich. Wir können nicht wissen, dass ein anderer
Mensch ärgerlich ist, wenn wir nicht selbst auch ein bisschen ärgerlich sind. So gesehen, sind
andere aufgrund unserer Spiegelneuronen zum Teil immer mitverantwortlich für unsere eigenen
Gefühle und sind wir zum Teil immer mitverantwortlich für die Gefühle anderer. Damit wir sanfte
und glückliche Beziehungen leben können, müssen unsere augenblicklichen Interaktionen von
Wärme und gutem Willen getragen sein. Unsere Intentionen dringen in Mikrokommunikationen
nach außen – im Ton der Stimme, einem Flackern in den Augen – sodass wir sie nicht allzu lange
verbergen können. Wenn wir uns in schwierigen Beziehungssituationen Selbstmitgefühl geben,
fühlen wir uns langsam ruhig und umsorgt, was zur Folge hat, dass unsere Beziehungspartner
ebenfalls beginnen, sich ruhig und umsorgt zu fühlen. Dies trägt zu einer Aufwärtsspirale positiver
Interaktionen bei, die Wut und Misstrauen in Güte und Annahme transformieren.
Hinter harten Gefühlen wie Bitterkeit und Zorn steckt oft ein unschuldiges „nicht erfülltes
Bedürfnis“
7,
So wünschen wir uns zum Beispiel alle, „in den Köpfen anderer wohlgefällig zu
leben“
. Die Teilnehmer des MSC-Programms werden gebeten, an eine Beziehung zu denken,
in der sie verletzt wurden, und dann den Ärger und Groll über Bord zu werfen und dem unerfüllten
Bedürfnis hinter dem Ärger zu begegnen. Oft wünschen wir uns, gesehen, gewertschätzt,
bewundert, getröstet, geliebt zu werden oder uns weniger verschreckt, weniger verwirrt oder
weniger allein zu fühlen. Das wunderschöne Gedicht von Hafiz „With the Moon Language“
verdeutlicht diesen Aspekt:
Admit something:
Everyone you see, you say to them, “Love me”.
Of course you do not do this out loud, otherwise someone would call the cops.
Still, though, think about this, this great pull in us to connect.
Why not become the one who lives with a full moon in each eye
that is always saying,
with that sweet moon language,
what every other eye in this world is dying to hear?
Wenn wir Kontakt zu dem weichen Gefühl hinter dem harten Gefühl aufnehmen und dem
unerfüllten Bedürfnis direkt mit unserer Freundlichkeit und Wertschätzung begegnen, ist es
wesentlich einfacher, Wut und Groll ziehen zu lassen.
Die Teilnehmer werden zu einer Reflektionsübung unter der Bezeichnung „Vergebung für sich
selbst und Vergebung für andere“ eingeladen. Hauptaspekt der Vergebungsübung ist es, sich
geschützt und sicher dem Schmerz und dem Leid zu öffnen, die wir in einer Beziehung erfahren
haben, bevor wir vergeben können. Selbstmitgefühl ermöglicht es uns, uns dieser Verletzung zu
stellen. Die folgende Übung ist ein Beispiel für eine Vergebungsübung:
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