Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 25

eingebracht. Wir sprachen über Mitgefühl und dann wurden all diese Menschen in Oslo und Utøya
ermordet. Und ich erinnere mich daran, dass Joan Halifax am Tag nach diesem Anschlag die
Morgenmeditation mit dem Fokus auf Mitgefühl und Sterben leitete. Sie bat uns, nicht nur die Opfer des
Anschlags sondern auch den Täter in unsere Meditation mit einzuschließen. Das war sehr machtvoll.
Sie sprach auch über die Rolle des Mitgefühls im Sterbeprozess und viele von uns waren tief bewegt
während der Meditation. Ich weiß, dass ein Doktorand aus meiner Gruppe, dessen Familie aus Oslo
stammt, es wirklich sehr schwer hatte und er nicht verstehen konnte, wie die Kultivierung von Mitgefühl
auch den Einschluss eines Täters, eines Mörders vieler Menschen, mit umfassen kann. Wie kann man
jemals sein Herz einer solchen Person gegenüber öffnen? Diese Momente führten also auch zu
Reibung. Man konnte es fühlen. Es ist eine Sache, über universelles Mitgefühl zu sprechen; und es ist
eine ganz andere Sache, in einer sehr realen Situation zu leben – in dem Moment, in dem Menschen
aus den eigenen Reihen getötet werden.
OE:
   Ja – das war ein harter Moment. Joan erinnerte uns nicht nur an Oslo sondern auch an die Dürre
und die Hungerkrise im Sudan – lasst uns auch das nicht vergessen – und bat uns auch, diese
Menschen mit einzuschließen. Das war etwas sehr Schönes, daran erinnert zu werden, über diesen
Zirkel vertrauter europäischer, skandinavischer, nachbarschaftlicher Gefühle hinaus zu gehen. Es
betrifft alle. Und ein weiteres Thema, das diese Meditation – und eigentlich alle Meditationen –
hervorhob, stellt für uns im Studio ein sehr wichtiges Thema dar: Das Gefühl, präsent zu sein. Wir
sprechen mit dem Studioteam oft darüber. Über die Konsequenzen daraus, uns präsent zu fühlen. Und
erst kürzlich arbeiteten wir mit Begriffen des öffentlichen Raums. Welche Ressourcen bieten uns diese
Räume? Welche Werte werden als Richtlinien zur Definition öffentlicher Orte genutzt? Wer sind die
Menschen, die die Verantwortung für die Definition von Orten für andere übernehmen? Unterstützen
diese Entscheidungsträger Qualitäten in öffentlichen Orten auf eine Weise, mit der sie tatsächlich den
Begriff der Intersubjektivität fördern – mit dem Ziel, Menschen zusammenzubringen?
Erstaunlicherweise gibt es eine ganze Reihe von öffentlichen Räumen, die so entwickelt wurden, dass
sie die Idee der gemeinsamen Nutzung eines Raums überhaupt nicht unterstützen.
TS:
   Olafur, glauben Sie, dass dieses Buch und der Dokumentarfilm
, den wir
zusammen zu diesem ersten Workshop produzieren, etwas sein könnten, das Kettenreaktionen und
positive Veränderungen erzeugen kann?
OE:
   Ich sehe die Dokumentation und dieses Buch als das Ansprechen von Mitgefühl auf eine andere
Weise an, als die Vorstellung eines fast pragmatischen Ansatzes sozusagen. Für mich ist klar, dass
sowohl Kunst als auch besonders kontemplative Wissenschaften oft mit einer gehörigen Portion
Skepsis konfrontiert werden. Selbst innerhalb des wissenschaftlichen Kontextes wird die Art der
Forschung, die dieses Buch repräsentiert, oft durch die Naturwissenschaften marginalisiert. Und
obwohl wir Veränderungen erkennen können, sollten wir sehr ehrlich sein und zugeben, dass es sich
dabei um eine relativ langsame Veränderung handelt. Es gibt einen Bedarf nach mehr und wachsender
Offenheit, und um Marginalisierung zu vermeiden, müssen Sie Ihr Material zugänglich machen. Sie
müssen es tatsächlich entmystifizieren, um es für Nichtexperten zugänglich und relevant zu machen ...
Die Anwendung der wissenschaftlichen Sprache zur Beschreibung von etwas, das – für viele Menschen
– als nicht-wissenschaftlich angesehen wird, ist ein sehr guter Ansatz.
Es ist notwendig, die größeren Ursachen- und Wirkungsrelationen zu verstehen, unseren Einfluss auf
die Welt und deren Einfluss auf uns. Dies ist genau der Moment, in dem man zu fragen beginnt: Wie
fühle ich mich in einer Gruppe? Was ist kollektiv? Was ist mein Begriff von Gemeinschaft und wie
erfahre ich es, ein Teil davon zu sein? Wann beginnt jemand damit, Verantwortung für einen anderen
zu fühlen? Jemanden neben einem selbst, jemanden in einem anderen Raum, in einem anderen Land,
in Norwegen und im Sudan? Das ist wirklich interessant und für dieses Thema gibt es noch nicht allzu
viel Klarheit, obwohl wir ständig mit Menschen konfrontiert werden, die leiden. Wir wissen, dass es
passiert. Es gibt niemanden, der leidet, ohne dass irgendein anderer es weiß – in unserem
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