Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 301

Freundlich zu sich selbst sein
Wie reagieren Sie normalerweise auf Schwierigkeiten in Ihrem Leben, wie Belastungen, ein Gefühl
des Zurückgewiesenseins, körperliche Probleme oder einen bedeutenden Fehler bei der Arbeit?
Wenn etwas schiefläuft, bekämpfen wir unsere negativen Erfahrungen meistens instinktiv und
suchen den Fehler bei uns selbst: „Das hätte nicht passieren dürfen!“, „Was ist nur los mit mir?!”
Unglücklicherweise verschlimmert sich die Situation aber dadurch nur noch. Was würde
geschehen, wenn Sie sich stattdessen zunächst einen Moment Zeit nähmen, um sich selbst zu
beruhigen und Mut zuzusprechen, wenn Sie sich schlecht fühlen, gerade weil Sie sich schlecht
fühlen – genauso, wie Sie es auch für einen Freund oder einen anderen nahestehenden
Menschen tun würden? Mit anderen Worten: Was wäre, wenn Sie sich in der Kunst des
Selbstmitgefühls
üben würden?
Selbstmitgefühl kann jeder lernen, auch Menschen, die in der Kindheit nicht genügend Zuneigung
bekommen haben oder die es peinlich finden, nett zu sich selbst zu sein. Tatsächlich geht es hier
um eine ziemlich mutige Geisteshaltung. Denn sie bietet all den Verletzungen die Stirn, die wir uns
jeden Tag selbst zufügen, indem wir uns fertig machen, viel zu hart mit uns umgehen und uns eine
unrealistische Perfektion abverlangen. Selbstmitgefühl verleiht uns die emotionale Stärke und
Widerstandsfähigkeit, uns schneller von den Verletzungen unseres Egos zu erholen, sodass wir
unsere Fehler zugeben, uns selbst vergeben und auf uns selbst und andere mit Anteilnahme und
Respekt reagieren können. Denn letztendlich ist es menschlich, Fehler zu machen. Selbstmitgefühl
sorgt auch für die nötige Unterstützung und Inspiration, um die erforderlichen Änderungen in
unserem Leben angehen und unser volles Potenzial entfalten zu können. Dieses Kapitel
beschäftigt sich zunächst damit, was Selbstmitgefühl ist und was es nicht ist, und evaluiert dann
wissenschaftliche Aussagen zu den Vorteilen einer Kultivierung von Selbstmitgefühl.
Was ist Selbstmitgefühl und warum benötigen wir es?
Mitgefühl beinhaltet eine Sensibilität für die Erfahrung von Leid, gekoppelt mit dem tiefen Wunsch,
dieses Leid zu lindern
Selbstmitgefühl ist einfach ein nach innen gerichtetes Mitgefühl. Unter
Bezugnahme auf die Schriften verschiedener buddhistischer Lehrer
hat Neff Selbstmitgefühl als
aus drei Hauptelementen bestehend operationalisiert: Güte, ein Sinn für gemeinsames
Menschsein (common humanity) und Achtsamkeit
Wenn diese sich gegenseitig
beeinflussenden Komponenten zusammenkommen, entsteht eine selbstmitfühlende
Geisteshaltung. Selbstmitgefühl ist relevant, wenn wir uns mit den eigenen Unzulänglichkeiten,
Fehlern und Misserfolgen beschäftigen oder mit schmerzvollen Situationen im Leben
auseinandersetzen, die sich unserer Kontrolle entziehen.
Selbstgüte
In der westlichen Kultur legt man großen Wert darauf, freundlich zu Freunden,
Familienangehörigen und Nachbarn zu sein, denen es nicht gut geht. Wenn es um uns selbst geht,
gilt das allerdings nicht. Machen wir einen Fehler oder versagen wir in irgendeiner Weise, ist die
Wahrscheinlichkeit größer, dass wir uns dafür selbst fertigmachen, als dass wir uns unterstützend
selbst umarmen. Und selbst, wenn unsere Probleme durch Einflüsse verursacht wurden, die sich
unserer Kontrolle entziehen – wie etwa ein Unfall oder ein traumatisches Ereignis – konzentrieren
wir uns oft stärker darauf, das Problem zu lösen, als uns selbst zu beruhigen und Mut
zuzusprechen. Selbstgüte tritt dieser Tendenz entgegen: Dabei gehen wir sorgend, verständnisvoll
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