Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 310

Assoziation zu Narzissmus auf, während das beim Selbstmitgefühl nicht der Fall war. Diese
Ergebnisse legen nahe, dass selbstmitfühlende Menschen im Gegensatz zu Menschen mit hohem
Selbstwertgefühl weniger darauf fokussiert sind, sich selbst zu bewerten, sich besser als andere zu
fühlen, sich Gedanken darüber zu machen, ob andere sie verurteilen oder nicht, ihre Ansichten zu
verteidigen oder ängstlich gegenüber Menschen zu reagieren, die anderer Meinung sind.
Insgesamt ist Selbstmitgefühl ein gesünderer Weg für das eigene Wohlgefühl als das
Selbstwertgefühl, das auf dem Bedürfnis basiert, sich besser als andere zu fühlen.
Selbstmitgefühl und Motivation
Viele Menschen betrachten Selbstkritik als notwendiges Mittel, um sich selbst zu motivieren – sie
befürchten, dass sie zu selbstzufrieden und faul würden, wenn sie zu selbstmitfühlend wären.
Gewiss ist eine konstruktive und unterstützende Selbstkritik hilfreich (und Teil der Freundlichkeit
sich selbst gegenüber). Das gilt jedoch nicht für eine harte und abwertende Selbstkritik: Sie macht
tendenziell depressiv und lässt Selbstvertrauen schwinden[24].Forschungsergebnisse belegen,
dass Selbstmitgefühl die Lern- und Entwicklungsmotivation erhöht. In einer Studie zu
Selbstmitgefühl und Lernzielen fanden Neff, Hseih und Dejitthirat[25]heraus, dass Selbstmitgefühl
eher mit einem Streben nach Bewältigung als mit einem Streben nach Leistungszielen verbunden
wurde. Die Motivation von Studenten, die mit einer Bewältigungsorientierung lernen, ist von
Neugier und dem Wunsch geprägt, neue Kompetenzen zu erlernen. Sie betrachten dabei eigene
Fehler eher als Bestandteil des Lernprozesses. Studenten mit einer Leistungsorientierung
dagegen sind extrinsisch motiviert, streben den Erfolg als Mittel der Verteidigung oder Stärkung
ihres Selbstwertgefühls an und neigen eher zu Versagensängsten [26]. Neff et al.[25]haben
nachgewiesen, dass Selbstmitgefühl positiv mit Bewältigungszielen und negativ mit
Leistungszielen assoziiert ist. Dieses Verhältnis erklärt sich durch die geringere Versagensangst
und die größere Kompetenzwahrnehmung selbstmitfühlender Menschen (die wahrscheinlich mit
einer geringeren Selbstkritik zusammenhängt). Es wurden zudem die Reaktionen von Studenten
untersucht, die vor kurzem durch eine Zwischenprüfung gefallen waren. Dabei stellte sich heraus,
dass selbstmitfühlende Personen eher in der Lage waren, mit ihrem Versagen umzugehen und es
als Lernerfahrung zu akzeptieren. Statt selbstzufrieden zu sein und den Status quo einfach zu
akzeptieren, sind Menschen mit Selbstmitgefühl offensichtlich in der Lage, aus Fehlern zu lernen,
weil sie sie nicht als Angriff auf ihren Selbstwert interpretieren.
Es besteht kein Zusammenhang zwischen Selbstmitgefühl und dem Maß der für sich selbst
akzeptierten Leistungsstandards. Allerdings besteht ein negativer Zusammenhang zu
maladaptivem Perfektionismus [7].Mit anderen Worten: Selbstmitfühlende Menschen setzen sich
genauso hohe Ziele wie Menschen ohne Selbstmitgefühl, sind aber nicht verzweifelt und frustriert,
wenn sie ihre Ziele nicht erreichen. Sie raffen sich auch nach einem Fehlschlag mit größerer
Wahrscheinlichkeit wieder auf und starten einen erneuten Versuch[27]. Selbstmitgefühl fördert
auch gesundheitsrelevante Verhaltensweisen, wie zum Beispiel das Einhalten von Diäten[28],das
Aufgeben des Rauchens [29]oder den Beginn eines körperlichen Fitnessprogramms [30].
Selbstmitfühlende Menschen sind zu produktiven Veränderungen in ihrem Leben motiviert – und
zwar nicht, weil sie sich selbst so, wie sie sind, unakzeptabel finden, sondern weil sie für sich
selbst sorgen und glücklich und gesund sein wollen.
Selbstmitfühlende Menschen sind auch mit größerer Wahrscheinlichkeit bereit, Verantwortung für
gemachte Fehler zu übernehmen und sich zu entschuldigen, wenn sie jemanden verletzt
haben [9],[31]. So wurden Studenten beispielsweise bei einer kürzlich von Breines und Chen[8]
durchgeführten Studie gebeten, über eine in letzter Zeit begangene moralische Verfehlung
nachzudenken, die sie bereut haben und bezüglich derer sie sich schuldig fühlen.
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